Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
beiden Ellbogen auf den Rand der Tischplatte. Er fixierte Carsten mit einem zweifelnden Blick. »Du fühlst dich nicht wohl, das kann jeder schon von weitem sehen.«
    »Gestern Abend hat mir jemand das Gleiche gesagt.«
    »Eine neue Freundin?«
    »Meine Vermieterin.«
    Martins Interesse erlosch. »Sie hat recht. Von Heidens Angebot ist das Beste, was dir momentan passieren kann. Ich habe deine letzten Sachen gelesen. Du bist immer noch besser als die meisten anderen. Vielleicht nicht mehr so verbissen wie früher, aber gut. Du hast Besseres verdient, als dich für irgendwelche Blättchen abzurackern.«
    »Zum Beispiel in einem Kuhdorf übers Schützenfest zu schreiben?«
    »Mein Gott, sei doch kein verbohrter Kindskopf. Hast du die letzten Jahre verschlafen? Stasi, Wirtschaftskriminalität, Aufschwung Ost – da drüben geschieht etwas. Früher hättest du für jedes solcher Themen einen Hintern geküsst …«
    »Mag sein. Das ist eine Weile her.«
    »Was, um Himmels willen, willst du denn sonst? Dich zur Ruhe setzen? Ausschlafen? Das kannst du dort genauso haben. Es gibt keinen, der dir auf die Finger klopft. Nicht so fest, dass es dich stören müsste.«
    »Du bist sehr daran interessiert, dass ich den Job annehme.«
    Martin lehnte sich blitzschnell über den Tisch. »Ich bin immer noch dein Freund.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Ich sehe, dass es dir nicht gutgeht. Du brauchst mehr als nur das Geld. Was du viel nötiger hast, ist eine Beschäftigung. Eine Aufgabe.«
    »Das klingt ziemlich albern.« Die Bemerkung tat ihm noch im gleichen Augenblick leid. Martin meinte es nur gut.
    »Von mir aus. Vielleicht ist es albern. Aber wenn du nur für einen Moment deinen Schädel benutzen würdest, kämst du zum gleichen Schluss.« Martin ließ sich rückwärts gegen seine Lehne sinken. Sein Blick fraß sich zornig in die Fassade eines benachbarten Hochhauses. »Herrgott, wie kann man nur so ein Arschloch sein …«
    Carsten senkte den Kopf, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Tut mir leid«, sagte er. Er gab sich einen Ruck und versuchte ein versöhnliches Lächeln. »Erzähl mir ein wenig mehr über diese Zeitung. Den Harzboten, oder wie das Blättchen auch immer heißen mag …«
    Martin sah ihn an. Sein Gesicht blieb ernst, doch in seinen Augen blitzte es hoffnungsvoll. »Immerhin, ein Anfang. Das meiste hat dir Nawatzki ohnehin schon erklärt.«
    Carsten nickte, und Martin fuhr fort: »Die Auflage von zweihundertfünfzigtausend Exemplaren ist natürlich gewaltig. Damit liegt das Blatt weit über dem Bundesdurchschnitt. Interessant ist, dass es kaum eine Differenz zwischen gedruckter und verkaufter Auflage gibt.«
    »Woran liegt das?«
    »Vor der Wende war der Klassenkämpfer Parteiorgan. Jeder Haushalt im Verbreitungsgebiet wurde beliefert. Ein Abo kostete damals nur ein paar Mark.« Er brach ab, um seine Tasse aufzufüllen. »Nach der Wende wurde ein Großteil der Abonnements weitergeführt, sei es, weil die Leute andere Sorgen hatten oder das Angebot an lesbaren Tageszeitungen dort ohnehin mager ist.«
    »Nawatzki sprach nur von Lokalredaktionen.«
    Martin nickte. »Der Mantel wird hier bei uns hergestellt. Aus Kostengründen. Es lohnt nicht – zumindest noch nicht – dort eigene Politik-, Kultur- oder sonstige Redaktionen zu betreiben. Die Leute lesen ohnehin nur den Lokalteil.«
    Carsten schnitt eine Grimasse. »Klingt toll.«
    »Ein Scheißblatt, natürlich.« Martins Offenheit kam überraschend. »Das ist der Grund, warum von Heiden Leute wie dich ködert, um den Laden aufzumöbeln. Wie er schon sagte: Das Potenzial ist bei einer solchen Auflage enorm. Kein Verlag lässt sich das durch die Lappen gehen. Und für dich ist es eine Chance. Schlicht und einfach.«
    »Für welche Redaktion bin ich vorgesehen? Vorausgesetzt, ich nehme an.«
    »Eine ist so gut oder schlecht wie die andere. Der Ort heißt Tiefental. Sechs- oder siebentausend Einwohner. Mitten im Wald. Fachwerkhaus-Idylle, sagt zumindest Nawatzki. Er meinte, es würde dir dort gefallen.«
    »Da bin ich ganz sicher.«
    »Kein Sarkasmus, bitte.«
    »Nicht die Spur.«
    »Was also wirst du von Heiden sagen?«
    Carsten hob die Schultern und stand auf. Martin schenkte ihm einen misstrauischen Blick, dann grinste er. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und begleitete ihn zur Tür. Förmlich. »Überleg's dir«, sagte er nur.
    »Wir sehen uns.«
    Carsten fällte seine Entscheidung erst, als sich die Türen des Aufzugs hinter ihm

Weitere Kostenlose Bücher