Zopfi, Emil
Robert stand neben dem Gepäckband an der Kurve, wo die Koffer und Taschen der Flugpassagiere aus der Tiefe heraufbefördert wurden und auf die schwarzen Gummischuppen fielen. Er sah zu, wie die halbmondförmigen Schuppen ineinandergriffen, sich verdrehten und dann wieder ausrichteten. Das Band lief schon eine Weile leer, dann stoppte es, die Anzeige am Bildschirm erlosch. Sein Koffer war nicht angekommen.
Die letzten Passagiere seines Flugs schoben ihre Trolleys zum Ausgang. Durch die Glasfront sah er Menschen in der Ankunftshalle, die sich umarmten und küssten. Zwei Kinder schwenkten Fähnchen. Weisses Kreuz auf rotem Grund. «Welcome to Switzerland», stand in schwarzer Schrift auf einer Wand aus Chromstahl.
Der Flug aus Chicago hatte in Frankfurt den Anschluss verpasst, Sturm über dem Atlantik. Man hatte ihm versichert, sein Koffer werde nach Zürich umgeleitet. Er schritt durch die Halle, wo die Passagiere anderer Flüge ihr Gepäck von den Bändern hoben und auf Trolleys türmten. Skiausrüstungen, Rucksäcke, ein Cello, ein Teddybär, der auf einer mit Bindfaden umschnürten Schachtel sass.
Im Fundbüro «Lost and Found» sass eine Afrikanerin hinter einem der Bildschirme, das schwarzglänzende Haar in dicht am Kopf anliegende Zöpfchen geflochten. «May I help you, Sir?»
Ihr Englisch klang kantig, so wie Schweizer sprechen. Im Midwestern-Slang, den er sich seit langem angewöhnt hatte, erklärte Robert, dass sein Koffer nach der verspäteten Ankunft in Frankfurt umgeleitet worden sei. Zuverlässig auf den Anschlussflug, habe man versichert. Er schob der Frau das Flugticket mit dem angeklebten Gepäckschein hin. Sie warf einen Blick darauf, tippte einige Daten in ihre Tastatur, legte ihre Stirn in Falten. Dann telefonierte sie, ihre rauchige Stimme und die Zürcher Mundart befremdeten ihn.
Er sah durch die Glasfront, wie sich die Angekommenen in der Halle zerstreuten, beobachtet von zwei Polizisten in blauen Hemden mit Pistole und Schlagstock am Gürtel. Ein Mann stand noch beim Ausgang, ein Schild in der Hand: «Herr Wehrli». Auch Herr Wehrli ist verloren gegangen. Ein verlorener Sohn wie ich, dachte Robert. Aber nun bin ich hier, für wenige Tage. Wie viele Jahre waren vergangen seit dem letzten Mal? Er mochte nicht nachzählen.
«I’m sorry, Sir.» Man werde sein Gepäck nachliefern, sobald es eintreffe, erklärte die schwarze Schweizerin. Voraussichtlich mit dem nächsten Kurs der Lufthansa aus Frankfurt. Wahrscheinlich sei die Zeit in Frankfurt zu knapp gewesen, um das Gepäck umzuleiten. Sie tippte mit einem Kugelschreiber auf ein Formular. Er müsse hier seine Wohnadresse in der Schweiz eintragen. Hotel oder privat, ein Kurier werde ihm den Koffer ausliefern, auch spät nachts noch, wenn er das wünsche.
«Es ist dringend. Ein Vortrag. Mein Notebook ist im Koffer.»
«Wir tun unser Bestes, Professor Brown.»
Sie hatte seine Personaldaten vom Schirm gelesen. Professor Robert Brown, University of Iowa, Iowa City.
Robert griff nach dem Stift. Die Veranstalter des Symposiums hatten ein Hotel reserviert, doch der Name wollte ihm nicht einfallen. Die Unterlagen waren im Koffer, er hatte sie nur flüchtig durchgesehen. Ein Hotel in der Umgebung der Hochschule, glaubte er sich zu erinnern.
Die Frau nannte zwei oder drei Namen, er hörte nur halb hin, schüttelte den Kopf.
«Sie erinnern sich wirklich nicht?» Mit spitzen roten Fingernägeln zupfte sie an ihrer Augenbraue. Sie glaubte ihm nicht.
«Tut mir leid. Das Alter, Sie verstehen.»
«Soll ich die Hochschule anrufen?»
«Danke, ich kümmere mich darum.» Er schrieb die Nummer seines Smartphones ins Formular.
Sie schob ihm das Papier zurück, markierte eine Linie mit einem Kreuz. «Unterschreiben Sie bitte hier.»
Er setzte seine Unterschrift hin. Robert Brown.
«Können wir Ihnen sonst noch behilflich sein?»
Robert fuhr mit der Hand über seine Gesässtasche, die Brieftasche war da, mit Kreditkarten und Ausweisen, das Smartphone steckte in der Innentasche der Jacke. «Danke, ich kenne mich aus.»
«Rufen Sie an, wenn Sie ein Hotel gefunden haben.» Sie zog einen Kreis um eine Telefonnummer auf dem Formular. «Schönen Aufenthalt in Zürich.»
«Besten Dank.» Er faltete das Papier, steckte es ein.
«Ist noch was?» Sie sah ihn an. Hatte er ohne es zu bemerken Zürichdeutsch gesprochen? Er war Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. In Zürich aufgewachsen. Doch seine Biografie ging niemanden etwas an, am wenigsten eine
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