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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Kilometer entfernt von der Schlucht und dem einsamen Wachturm, empfingen die anderen sein Signal.
    Der Beginn.
    Endlich.

Kapitel 3
    Kurz nachdem der Kapitän den Landeanflug angekündigt hatte, kippte die Maschine sanft zur Seite und legte sich hoch über der Ebene in eine weite Schleife. Carsten bemühte sich, durch das trübe Fenster einen Blick in die Tiefe zu werfen. Er sah hinab auf weite Felder und ein Autobahnkreuz. Er rechnete damit, dass sie die äußeren Randgebiete Leipzigs passieren würden, doch seine Erwartungen wurden enttäuscht. Der Flughafen lag viel zu weit außerhalb, als dass man im Anflug von Westen her etwas hätte sehen können. Insgeheim hatte er gehofft, aus der Luft einen ganz bestimmten kleinen See wiederzuerkennen, zu dem Sandra ihn am Nachmittag eines längst vergangenen Weihnachtstages geführt hatte.
    »Kannst du Schlittschuh laufen?«, hatte sie ihn gefragt, und in ihren Augen hatte wieder jener gutmütige Spott gefunkelt, mit dem sie jede seiner Antworten vorauszuahnen schien.
    »Klar.«
    »Fein, du kannst die Schuhe von meinem Vater nehmen.«
    Er nickte und bemühte sich, sehr cool zu wirken.
    Das verging ihm, als er sah, was sie ihm brachte. Keine Schuhe, wie er sie von zu Hause kannte, mit verstärktem Rand rund um den Knöchel, der ein Umknicken der Füße unmöglich machte. Das, was sie aus dem Schrank ihrer Eltern fischte, waren simple Metallkufen, die er sich mit Lederriemen um die Turnschuhe schnallen sollte. Nie im Leben würde er auf diesen Dingern stehen, geschweige denn laufen können. Nie-im-Leben!
    Der See lag etwa zwei Kilometer vom Haus seiner Verwandten entfernt. Sandra und er gingen allein dorthin. Der Schnee reichte ihnen fast bis zu den Knien. In einem lichten Waldstreifen ließ sie ihn anhalten. Dies sei ein geheimer Ort, erklärte sie, und er dürfe niemandem davon erzählen. Er versprach es ihr und belächelte insgeheim ihre kindlichen Gedanken. Seinen letzten ›geheimen Ort‹ hatte er mit neun gehabt, eine baufällige Holzhütte im Kirschbaum seiner Großeltern. Mittlerweile hielt er sich für zu erwachsen, um solche Kindereien ernst zu nehmen.
    Er begriff, was Sandra wirklich meinte, als sie ein Schild passierten. Betreten des Geländes verboten! stand darauf, und, schlimmer noch: Lebensgefahr! Sein Herz rutschte bis zum Südpol.
    Wenig später stießen sie auf einen hohen Zaun aus Metallgeflecht. Der obere Rand war mit Stacheldraht abgesetzt. Gleich vor ihnen hing ein weiterer Hinweis: Achtung! Selbstschussanlagen!
    »Du willst doch nicht da rein, oder?« Mit einem Ruck blieb er stehen. Keinen Schritt weiter.
    Sie lachte. Es klang wie ein Glockenspiel. »Sicher will ich das.«
    Lieber Himmel! Die Grenze war weit über hundert Kilometer entfernt. Aber was war dann das hier?
    Militärisches Sperrgebiet, durchfuhr es ihn. Er sah sich bereits von Sowjetpanzern umzingelt. Bilder von Konzentrationslagern jenseits des Ural tanzten vor seinen Augen.
    Sandra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Während er noch wie angewurzelt dastand und nach einer Ausrede für seine Umkehr suchte, zerrte sie an einigen losen Ästen, die am unteren Rand des Zauns lagen. Nachdem sie Zweige und Schnee beiseitegeräumt hatte, kam ein Loch zum Vorschein. Gerade groß genug, um sich hindurchzuzwängen.
    »Hör mal«, versuchte er es diplomatisch, »ich weiß nicht, ob …«
    Sie unterbrach ihn mit einem umwerfenden Lächeln. »Du brauchst keine Angst zu haben. Um diese Zeit ist hier niemand.«
    »Warum bist du da so sicher?«
    »Ich war schon oft hier. Der See ist gleich hinter den Bäumen.«
    Er wies auf das Schild. »Und die Selbstschussanlagen?«
    Sie kicherte. Plötzlich war er nicht mehr ganz sicher, ob seine Knie nur aus Angst zitterten. »Viel zu teuer. So was gibt's hier nicht.«
    Sie schien zu bemerken, dass ihn das nicht überzeugte. »Sind alle Jungs dort, wo du herkommst, solche Memmen?«, fragte sie mit zuckersüßem Lächeln.
    Das ist unfair, dachte er. Ich bin kein Feigling. Aber auch kein Selbstmörder. Vielleicht war das die Strafe dafür, dass er seinen Eltern nichts zu Weihnachten geschenkt hatte.
    Sandra hatte es offensichtlich satt, auf ihn zu warten. Sie legte sich vor dem Zaun in den Schnee und robbte durch die Öffnung. Auf der anderen Seite angekommen, stand sie auf, klopfte sich Eis und Nässe von der Kleidung und sah ihn an. »Nun komm schon. Der Boden ist gefroren. Du wirst dich nicht mal schmutzig machen.«
    Er betrachtete sie durch die Maschen des

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