SCHWELLE
Zeiten ich kannte, und mich zwischen die Schienen gestellt, um auf die Lock zu warten. Ganz einfach war das! Jedenfalls schien es in dem Moment einfacher, als weiter so ein beschissenes Leben zu haben.“
Ich nahm einen Schluck aus meiner Limoflasche und blickte mich verzweifelt nach den Salatblattjägern von meinem Tisch um.
„W…willst du denn nicht w…wissen, was jetzt besser ist?!“
Sein leichter Sprachfehler machte sich wohl nur bemerkbar, wenn er einen anderen Menschen etwas Wichtiges sagen wollte.
„Was denn genau?“, frug ich, weil ich kaum mehr eine andere Chance auf ein Alltagsthema mehr sah und dieses Gespräch auch irgendwie schneller zu Ende bringen wollte.
„Ich denke nicht mehr so viel!“
Mein ehrlich verwundertes Gesicht schien eine Ausführung zu verlangen.
„Ich habe mir vorher immer über alles Mögliche Gedanken gemacht. Vor allem darüber, was andere über mich denken könnten. Ob meine Eltern mit mir zufrieden sind. Ob meine Freunde mich cool finden. Ob andere meine Freundin hübsch genug finden. Ob mein Arbeitsplatz auch genug Eindruck auf meine Leute macht, und so weiter.“
„Und das ist jetzt nicht mehr so?“
„Ja. Denn ich habe aufgehört so etwas zu denken und bin einfach nur noch ich. Ich sehe mich nicht mehr nur mit den „Augen“ der anderen Menschen, sondern lebe einfach mein Leben.“
Jetzt war ich wirklich platt. Es machte auf einmal selbst für mich Sinn.
„Ich konnte einfach nicht aufhören über das nachzudenken, was andere über mich denken könnten. Ich war richtig blöde!“
„Jetzt verstehe ich, was du meinst. So habe ich das noch nie betrachtet.“
„Versteh mich nicht falsch, manchmal bereue ich schon, dass ich vorher so blöde war, aber den Selbstmord eben nicht. Jetzt bin ich zwar nicht mehr schlau im Kopf, aber auch nicht mehr blöde.“
Die Buffetplünderungsdelegation steuerte auf unseren Tisch zu und setzte sich laut tratschend wieder zu uns. Seine Freundin stellt ihm einen vollen Teller hin und er küsst sie zum Dank liebevoll auf die Wange. Er hatte sie in der Behindertenwerkstätte, in der er seit kurzem arbeitete, kennengelernt. Beim Anblick des üppigen Nachschlags wurde das Grinsen im vernarbten Gesicht noch breiter und die Augen noch strahlender.
„Außerdem konnten Ärzte an mir das Zusammenflicken üben. So was wie mich damals kriegt man sonst nur im Krieg auf den Tisch.“
„Sag nicht so was Dummes“, meint seine Freundin immer noch lächelnd zu ihm.
„Wieso, ich darf doch ruhig angeben. Nicht jeder versucht einen Zug anzuhalten und überlebt das!“
Ja, da hatte er wohl recht! Nicht jeder betritt die Schwelle zwischen Leben und Tod und kriegt eine zweite Chance für ein glückliches, zufriedenes Leben!
Im Nachhinein bin ich doch froh, dieses Unterhaltung geführt zu haben. Es ist vielleicht ein kleines Geschenk für mich gewesen, nicht länger darüber nachzugrübeln, was Andere von mir denken könnten.
Jeder von uns ist ein Unikat. Jede Seele hat ihr eigenes unverwechselbares Wesen, dass viel zu kostbar ist, um sich ständig von negativen Gedanken durch selbst „eingebildete“ äußere Urteile irgendwo hineingedrückt zu werden. Äußere Eindrücke müssen nicht zwangsläufig die alles entscheidenden sein, und wenn Beziehungen und der empfundene Selbstwert nur darauf beruhen, stimmt etwas im eigenen Leben nicht mehr. – Vielleicht sind manches Mal, falsche, selbst auferlegte Maßstäbe letztendlich die Fallstricke, die unser positives Verhältnis zu uns und unserem Leben zerstören können.
Das klingt jetzt vielleicht für manchen zu abgehoben, ist es aber im Kern nicht. Es gibt Tausende, die denselben Job machen, mit ähnlichen Kollegen und Chefs. Ebenso viele sind der Spaßvogel in ihrem Freundeskreis. Und so könnte ich die Aufzählung weiterführen. Es gibt sehr viele identische oder sehr ähnliche Rollen auf diesem Globus, deren Protagonisten austauschbar sind.
Für mich steht aber mittlerweile fest, dass all diese Lebensrollen nicht das eigentliche Wesen eines Menschen ausmachen. Wenn man allerdings der Erfüllung dieser Rollen, einen zu großen Stellenwert einräumt, läuft man Gefahr, krank zu werden. Den eigenen „Wert“, daran zu messen, wie viel Akzeptanz oder Ansehen man in und von der Umgebung erhält. Man lässt dadurch zu, dass ständig, in seine Seelensuppe gespuckt wird und am Ende das eigene Leben nicht mehr genießbar ist.
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