Schwimmen mit Elefanten - Roman
langer Winter hielt Einzug. Es war der kälteste Winter, den die Bewohner der Residenz »Etüde« jemals erlebt hatten. Die Kanalisation, die Wasserleitungen, die Teiche und Bäche – alles, was Wasser mit sich führte, war zugefroren. Einmal wurde der Schnee vom Wind derart gegen die Masten gepeitscht, dass die Führungsrollen der Seilbahn vereisten und sie nicht fahren konnte, wie damals beim Besuch von Herrn S.
Die ohnehin seltenen Besucher wurden noch seltener. Durch die tief hängenden Wolken, die auch tagsüber nie aufrissen, sondern den Berg rundherum verhüllten, hatte man den Eindruck, dass die Residenz komplett von der Welt abgeschnitten war. Es herrschte Totenstille. Immer mehr Bewohner klagten über die Kälte. Sie wurden zunehmend wortkarger, sogar das Klacken der Figuren, das sonst durch das Schachzimmer hallte, klang schwermütig.
Es gab eine Sache, die der Junge am liebsten verdrängt hätte. Überkam ihn in untätigen Momenten, wenn er seine Aufgaben erledigt hatte oder in der Puppe auf die Alten wartete, dieser Gedanke, versuchte er ihn mit einem heftigen Kopfschütteln oder einem Seufzer sofort wieder zu vertreiben.
Was wird sein, wenn die Schachpartie mit Miira beendet ist?
Aber je weniger er sich mit dieser Frage beschäftigen wollte, desto mehr drängte sie sich ihm auf. Ob Miira sich ebenfalls Sorgen machte? Nach dem zwanzigsten Zug ging die Partie ihrem Ende entgegen. Ihr König auf g1 war zwar durch den Turm und die Bauern geschützt, aber diese Verteidigungslinie war schwach und würde letztendlich gegen den Läufer, der auf der linken Seite lauerte, nichts ausrichten können. Doch der Läufer des Jungen warf einen zögerlichen, betrübten Schatten auf das Brett, was er zuvor nie getan hatte. Normalerweise würde er den gegnerischen König ins Visier nehmen und einen beschwingten Tanz aufführen, aber diesmal verharrte er lustlos auf der Stelle. Indira spürte, dass der Junge zögerte, und wartete gespannt auf seinen nächsten Zug.
Es quälte den Jungen, dass er die Partie unnötig in die Länge zog, nur weil er weiter Post von Miira bekommen wollte. Ihre erste gemeinsame Notation wurde nun langatmig, dabei wollte er doch Miira zu Ehren eine Sinfonie hinterlassen, gegen die alle bislang komponierten verblassten.
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Als er ihrem König Schach bot, fiel das Schreiben schwer wie nie zuvor. Völlig verkrampft hielt er den Stift fest und kratzte die einzelnen Symbole tief in das Papier hinein. Nachdem er den Brief versiegelt und mit einer Marke versehen hatte, ließ er ihn fünf Tage liegen, bevor er ihn in die Tasche steckte und dann noch einige Tage mit sich herumtrug. Als er sich dann endlich dazu durchgerungen hatte, ihn dem älteren Zwilling zu übergeben, war der Umschlag so zerknittert, dass man an seinen Falten erkennen konnte, wie sehr sein Absender gezögert hatte.
»Hier bitte, Ihr Nachtmahl.«
»Danke. Was gibt es denn heute?«
»Kohlrouladen.«
»Oh, das freut mich.«
Als könne sie nicht abwarten, hielt die Oberschwester ihren Kopf über den Teller, den ihr der Junge gerade hingestellt hatte, um sich den Duft in die Nase steigen zu lassen. Wie üblich hatte er die Portion von vier Kohlrouladen auf drei reduziert und von der Mousse au Chocolat geschickt die zur Verzierung aufgetupfte Schlagsahne entfernt.
»Was ich Sie übrigens immer schon fragen wollte …« Hungrig stopfte sie sich die Papierserviette ins Dekolleté. »Haben Sie nie darüber nachgedacht, einmal woanders Schach zu spielen?«
»Woanders?«
»Ja. Dort, wo Sie auf stärkere Gegner treffen würden.«
Während die Oberschwester genüsslich in eine Kohlroulade biss, wusste der Junge zunächst nicht, was er sagen sollte.
»So wie der eine damals, Herr Soundso, der internationale Schachmeister.«
»Ja, aber …«
»Hier können Sie doch nur mit alten Leuten spielen.«
Die Oberschwester kaute genüsslich. Ihre Leibesfülle war wie üblich fest verpackt in der weißen Tracht, und das Häubchen saß auf ihrem Kopf, als wäre es mit ihm verwachsen.
»Der weltberühmte Meister hat Ihnen doch sicher gesagt, dass Sie gut genug spielen, um bei großen Turnieren teilnehmen zu können?«
»Gab es denn Beschwerden von den Bewohnern? Ich meine, darüber, wie ich Schach spiele?« fragte der Junge besorgt.
»Aber nein. Ganz im Gegenteil, alle sind hochzufrieden mit Ihnen. Ich dachte nur, wie traurig es für Sie sein muss, so unterfordert zu sein. Sie sind doch noch jung. Warum verbringen Sie die beste Zeit
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