Schwimmen mit Elefanten - Roman
von dem Salon machte, in dem das Simultanschach stattfand. Auf dem Bild schaute der Junge einem alten Herrn über die Schulter, der sich gerade gegen Herrn S. zur Wehr setzte. Der Blick, mit dem er die Figuren fixierte, war so intensiv, dass man sich fragte, woher dieser kleine Mensch eine solche Energie hernahm. Die Lippen fest geschlossen wie bei seiner Geburt, hatte er den rechten Zeigefinger ans Kinn gelegt. Sein bleicher Nacken, die glatte Stirn und das weiche, schmiegsame Haar vermittelten tatsächlich den Eindruck, als wäre er immer noch ein Kind von elf Jahren. Einzig seine Hand, die den Hebel bediente, sah aus wie die eines alten Mannes. Jedem, der die Fotografie zu Gesicht bekam, verschlug es die Sprache beim Anblick seiner würdevollen Erscheinung.
Als der Reporter ihnen die Bilder zusammen mit einem Dankesschreiben von Herrn S. schickte, ließ die Oberschwester einen Abzug der Aufnahme anfertigen, den sie in ihrem Schreibtisch verwahrte.
Seitdem hatte sie jedes Mal, wenn sie zu Beginn ihrer Schicht das Stethoskop aus der Schublade holte, das Bild des Kleinen Aljechin vor Augen.
Nichts hatte eine annähernd hohe Bedeutung für den Jungen wie die Briefe, die er von Miira bekam. Eine einzige Zeile von ihr war für ihn von unschätzbarem Wert. War der Moment gekommen, wo der ältere Zwilling die Warenlieferungen aus dem Tal brachte, wurde er ganz unruhig und überlegte sich einen Vorwand, unter dem er sich ins Foyer schleichen und am Empfang warten konnte. Da ihm aber nie etwas Gescheites einfiel, lief es immer darauf hinaus, dass er sich hinter einem Pfeiler versteckte, um ihm dort aufzulauern. Leider wurde er nur selten für seine Geduld belohnt.
Obwohl dem Jungen klar sein musste, dass Miiras Antwortschreiben mit dem achtzehnten Zug unmöglich schon am jetzigen Tag eintreffen konnte, wenn er gestern erst den siebzehnten Zug abgeschickt hatte, fühlte er sich hoffnungslos niedergeschlagen, wenn er in dem Briefbündel, das am Empfang lag, kein Schreiben von ihr entdecken konnte. Aber vielleicht bewies dieser Umstand ja, dass seine Freundin ernsthaft über ihren Zug nachdachte. Manche brauchen eben etwas länger dafür. Um seine Enttäuschung zu verbergen, bewegte er sich wie ein Läufer auf dem Karomuster der Bodenfliesen im Foyer hin und her.
Seine Freude war natürlich übergroß, wenn tatsächlich ein Brief für ihn dabei war. Dann ließ er ihn in die Hosentasche gleiten und las ihn erst, nachdem er in der Morgendämmerung in sein Zimmer zurückgekehrt war. Er hoffte, je länger er sich geduldete und die Lektüre des Briefs hinausschob, umso kürzer würde die Wartezeit auf den nächsten Brief sein.
Wenn der Umschlag noch in seiner Tasche knisterte, hatte er das Gefühl, Miira und die Taube an seiner Seite zu haben. Dann dachte er mit Wehmut an die Zeit, als sie zu dritt ein unschlagbares Trio gewesen waren.
Abends in seinem Zimmer war es dann so weit. Ich hoffe, ich beleidige dich nicht, wenn ich so schlecht spiele. Bitte mach dich nicht lustig über mich. Ich bin mir nicht sicher, ob das in dieser Situation der richtige Zug ist … Miiras Züge erzählten Bände. Immer wohnte ihnen ein gewisses Zaudern inne, aber zugleich drückten sie den Wunsch aus, akzeptiert zu werden. Weshalb sollte ich mich lustig über dich machen, murmelte der Kleine Aljechin dann und zeichnete ihren Zug zärtlich mit dem Finger nach. Das war so, als würde er sie in den Arm nehmen.
Der Sommer ging zu Ende, die Bergkuppen lagen wieder im Dunst, und als es so weit war, mit Holzscheiten ein Feuer im Ofen zu entfachen, zog eine neue Bewohnerin in die Residenz. Sie wirkte ein wenig verloren, als sie zwischen dem älteren Zwilling und der Oberschwester das Foyer betrat, so als wüsste sie nicht, was sie hier sollte. Sie schaute sich vorsichtig um, wich aber den Blicken der anderen Bewohner aus. Ihren unsicheren Schritten nach zu urteilen, litt sie offenbar an einer zehrenden Krankheit. Der Junge erkannte die neue Bewohnerin sofort: Es war die alte Dame.
Noch hatte sie kein Wort gesprochen, und von dem leichtfüßigen Gang, als sie damals mit klackernden Absätzen über den gefliesten Boden lief, war nichts mehr zu merken. Trotzdem wusste er sofort, dass sie es war.
Beinahe hätte er sie angesprochen, aber er hatte Angst, es könnte unhöflich sein, wenn sie plötzlich mit dem Menschen konfrontiert wurde, der sonst immer verborgen unter dem Tisch hockte. Deshalb sah er nur stumm zu ihr hinüber.
»Vielleicht wollen Sie
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