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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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endlich bis ins Zentrum des Gedränges vorgekämpft hatte, sah er, dass eine Frau am Boden lag; in Seitenlage und mit angewinkeltem Bein. Neben ihr kniete ein junger Mann. Die Nickelbrille saß ihm schräg auf der Nase, er machte eine besorgte Miene. Konzentriert hielt er zwei Finger an denHals der Liegenden. Dann beugte er sich weiter über sie, sprach der Frau zu und nach wenigen Sekunden des Zögerns begann er sie zu beatmen.
    Die Leute wichen zurück. »Man darf in einer solchen Situation nichts Falsches machen«, meinte ein Mann in der ersten Reihe.
    »Handeln muss man«, sagte ein anderer. »Einfach handeln. Aber jetzt ist ja Hilfe da.«
    Der Kommissar hatte genügend Platz, um sich ebenfalls hinzuknien. Er wartete, beobachtete den Mann, offenbar ein Arzt oder Sanitäter, wie er sich abmühte. Zwischen den Atemstößen, wenn der Mann nach Luft schnappte, sah Eschenbach das Gesicht der Frau. Er schätzte sie auf Mitte fünfzig. Einmal glaubte er ein Röcheln wahrzunehmen, und als der Arzt von ihr abließ, sah er einen Moment lang in zwei halboffene blaue Augen.
    »Herzmassage!«, befahl der Mann mit der Brille. »Wissen Sie, wie so etwas geht?«
    Eschenbach nickte. Gemeinsam drehten sie die Frau auf den Rücken, und der Kommissar setzte sich rittlings auf sie. »Probieren wir’s«, knurrte er. In aufeinanderfolgenden Sequenzen: Beatmung – Druck auf den Brustkorb – Beatmung, versuchten sie verzweifelt, ein flüchtiges Leben in den schlaffen Frauenkörper zurückzuzwingen.

4
    S ie haben sie nicht umgebracht«, sagte Rosa.
    Der Kommissar stand in seinem Büro am Fenster und sah in die finstere Nacht hinaus. »Das konnte doch kein Mensch wissen, dass die so einen Defibrillator hat«, murmelte er. »Man hat überhaupt nichts gesehen. Und ich bin auf ihr draufgehockt, hab ihr den Brustkorb gedrückt und gedrückt. Vielleicht hat das Gerät deshalb nicht mehr funktioniert.«
    Der Kommissar wiederholte zum dritten Mal, was er vom Gerichtsmedizinischen Institut als erste, kurze Zusammenfassung bekommen hatte.
    »Und der Arzt, der hat auch nichts gemerkt. Vollidiot.«
    »Jetzt hören Sie endlich auf«, sagte Rosa. Sie stand neben Eschenbachs Schreibtisch. Nachdem sie es bereits mit Kamillenblüten- und Verveine-Tee versucht hatte, stellte sie nun eine Flasche Remy Martin hin. »Vielleicht war die Frau schon tot. Das geht schnell, wissen Sie. Schließlich hat sie schon eine Weile dort gelegen … Haben Sie doch selbst gesagt. Und der Arzt hat keinen Puls mehr gefühlt. Haben Sie doch auch gesagt, oder?« Rosa füllte die Sätze mit Hoffnung, und die Gläser mit Cognac. »Jetzt trinken Sie etwas, Sie sind ja fix und fertig.«
    Der Kommissar schwieg.
    »Sie haben es gut gemeint.«
    »Das Gegenteil von gut ist immer gut gemeint.« Eschenbach löste sich vom Fenster, ging langsam zum Schreibtisch und leerte das Glas in einem Schluck. Dann sagte er mit heiserer Stimme:»Und dieser kleine Junge, der steht daneben und schaut mir zu. Sieht, wie’s mit seiner Mutter den Bach runtergeht …«
    »Fertig!«, zischte Rosa. »Fertig!« Ihr Zischen ging in ein Stottern und dann in ein tiefes, fast geräuschloses Schluchzen über. »Ich weiß doch auch nicht, Kommissario. Wenn man es gut meint, und es endet so schrecklich … Ich weiß doch auch nicht, was ich tun soll.«
    Zum ersten Mal, seit Eschenbach mit ihr zusammenarbeitete, zum allerersten Mal seit einundzwanzig Jahren schien Rosa hilflos. Er sah es in ihren Augen, dunkle, fast schwarze Knöpfe, in denen sich nichts mehr spiegelte.
    Es kam ihm vor, als könnte Rosa ihre Hilflosigkeit nicht ertragen. Die kraftvolle Spannung, die ihrem Körper etwas Ehrwürdiges verlieh, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
    »Sie dürfen doch nicht so denken, Kommissario. Sie können doch nichts dafür.« Und Rosa, diese starke, disziplinierte Frau, fing hemmungslos zu weinen an. Sie vergrub ihr Gesicht in zitternden Händen. Verwischte die sorgsam aufgetragene Wimperntusche. Schmierte und heulte, als kenne die Nacht keinen Morgen.
    Eschenbach kam sich plötzlich schäbig vor. Dass Rosa nun wie ein Häufchen Elend auf der Schreibtischkante hockte und wimmerte, war seine Schuld.
    Er hatte versagt, nicht sie.
    Rosa hatte alles richtig gemacht. Mit kühlem Kopf und dem Blick eines Feldherrn hatte sie ins Debakel eingegriffen; hatte für ihn entschieden, als er mitten im Gefecht steckte. Noch einmal gingen Eschenbach die Bilder durch den Kopf. So wie sich alles vor dem Bellevue

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