Sechselauten
ZÜRICH, 3. APRIL 2008
I ch bin das Kind einer Feckerin.
An welchem Tag ich geboren wurde, weiß ich nicht, und auch nicht, wo. Man hat es mir nie wirklich erzählt.
Vermutlich flutschte ich auf einen dreckigen Küchenboden zwischen Ibach und Brunnen. Oder ich verbrachte meine ersten Stunden, Tage, Monate irgendwo im Stroh. Vielleicht in einem dieser alten Ställe beim Eschwäldli oder auf dem Tänsch bei der Muota.
Ich habe mir später diese Orte angesehen. Ärmliche Bleiben und Schlupfwinkel, die einem in der Not ein Dach über dem Kopf geben. Und die man wieder verlässt, wenn im Frühjahr die Sonne den letzten schmutzigen Schnee aus den braunen Matten brennt.
Mein Geburtstag ist der 12 . Februar. Geburtsort: irgendwo. Ich bin Wassermann. Manchmal lese ich sogar mein Horoskop. Und ich habe gelernt, damit zu leben, dass es für mich keine Vergangenheit gibt.
Zürich ist eine schöne Stadt, auch wenn man keine Wurzeln hat. Nicht laut und nicht leise: etwas dazwischen. Ein Ort mit beschaulichem Lärm. Und wenn man sich anstrengt hier, wenn man sich hinbiegen lässt von dieser geschäftigen Bürgerlichkeit, dann wird nichts Dummes aus einem.
Manchmal denke ich, es war ein Fehler hierzubleiben. Vielleicht hätte ich woanders hingehen sollen. Woanders leben. Weit weg vom Dreck, aus dem ich stamme. Dann habe ich Angst, dass mich der Morast einholt, in dem noch immer meineWurzeln stecken. Alte, knorrige Wurzeln, vor langer Zeit durchschlagen, abgetrennt und verbannt.
Man bleibt oder geht. Ich glaube, es liegt in den Genen, im Blut, was man tut. So gesehen, ist es mir ein Rätsel, dass ich hiergeblieben bin.
In Zürich grüßt man mich auf der Straße.
Ich bin stolz, ich habe es geschafft. Es war ein weiter Weg. Ich bereue keinen Schritt, ich will nicht zurück in diesen Dreck, den ich nur aus Erzählungen kenne, an den ich mich überhaupt nicht erinnern kann.
Es gibt eine Hackordnung in diesem Stall, den man Leben nennt. Oben ist besser als unten. Und ich bin oben, fast ganz oben. Der Ausblick ist schön, auch ohne Wurzeln.
Gestern hat sie mich angerufen. Ich weiß nicht, was sie wieder will. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen mit ihrem ewigen Wankelmut. Sentimentale Geister sind eine Plage. Sie bringen nichts als Unheil. Das war schon immer so. Die Vergangenheit bringt nichts Gutes; und es gefällt mir überhaupt nicht, wie sie sich entwickelt hat.
Sky is the limit.
Ich mag diesen Spruch, auch wenn ihn heute jeder Buchhalter gebraucht, um mit seiner jämmerlichen Existenz fertig zu werden.
Heute Morgen habe ich mir dieses Notizbuch gekauft. An der Bahnhofstrasse, bei Landolt-Arbenz. Handgeschöpftes Papier mit einem Ledereinband. Teuer, aber hübsch. Ich schreibe auf, was ich niemandem erzählen kann. Ich will es loswerden.
Ich habe nie Tagebuch geführt. Weshalb auch? Die Leute fragen mich, wenn sie Rat brauchen. Ich gebe Instruktionen und ordne an. Alle hören auf mich.
Das hier ist nur für mich. Wenn das Buch vollgeschrieben ist, verbrenne ich es.
Meine Heimat ist Zürich. Und bald kommt der Tag, das zu beweisen.
PAUSE
Nach der ersten Halbzeit ziehen sich die Spieler in die Kabine zurück. Je nach Verlauf der ersten fünfundvierzig Minuten erhobenen oder gesenkten Hauptes. Sie hinterlassen ein leeres Feld, eine dumpfe grüne Fläche, die zurückbleibt, wie ein ausgezogener Schuh.
Die Zuschauer holen Bier.
Im käsigen Licht der Umkleidekabinen wird die Mannschaft neu eingeschworen. Die Spieler hören ihrem Trainer zu, auch wenn er flüstert. Weitermachen, das will jeder; und doch hängt das Damoklesschwert einer Auswechslung über den schweißnassen Körpern der Stammelf. Nicht mehr auf den Rasen zurückzudürfen, wenn das Publikum tobt: Das ist der kleine Tod.
Die Pause wird unterschätzt. Sie ist eine unsichtbare Qual.
K ommissar Eschenbach von der Kantonspolizei Zürich hatte Pause. »Suspendiert« war der Fachjargon, den Elisabeth Kobler vier Tage zuvor verwendet hatte.
Trotzdem hatte der Kommissar weitergemacht. Erst gestern noch war er mit Rosa bei den Fahrenden in Seebach gewesen, hatte Gespräche geführt, bis die Kollegen kamen: Und wie sie gekommen waren. Mit Blaulicht und Sirene! Ein Einsatzwagen der Abteilung Sicherheit, inklusive Begleitfahrzeug. Insgesamt acht Mann. Und das alles wegen eines kleinen Jungen!
Dass seine Chefin auf diese Weise durchgreifen würde, hätte Eschenbach nie für möglich gehalten. Dazu an einem Sonntag, wenn andere Leute in die Kirche
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