Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Entbindungsklinik. Als ich sie besuchte, fragte sie: ›Mama, wird es eine Revolution geben? Bricht jetzt ein Bürgerkrieg aus?‹«
»Also, ich habe die Militärfachschule absolviert. Ich habe in Moskau gedient. Hätten wir den Befehl bekommen, Leute zu verhaften, wir hätten diesen Befehl zweifellos ausgeführt. Viele sogar voller Eifer. Wir hatten das Durcheinander im Land satt. Früher war alles klar und einfach, alles war vorgeschrieben. Es herrschte Ordnung. Militärs mögen ein solches Leben. Im Grunde mögen das alle Menschen.«
»Ich habe Angst vor der Freiheit – da kommt ein betrunkener Kerl und brennt mir die Datscha nieder.«
»Was soll die Ideologie, Leute … Das Leben ist kurz. Lasst uns was trinken!«
19. August 2001 – zehnter Jahrestag des Augustputsches. Ich bin in Irkutsk, der Hauptstadt von Sibirien. Ich mache ein paar Blitzinterviews auf der Straße.
Frage:
»Was wäre, wenn das GKT schP 6 gesiegt hätte?«
Die Antworten:
»Das große Land wäre erhalten geblieben …«
»Sehen Sie sich China an, da hat das GKT schP gesiegt. China ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt …«
»Gorbatschow und Jelzin wären als Vaterlandsverräter vor Gericht gestellt worden.«
»Sie hätten das Land mit Blut getränkt … Und die Konzentrationslager gefüllt.«
»Der Sozialismus wäre nicht verraten worden. Es gäbe keine Trennung in Arme und Reiche.«
»Es hätte keinen Krieg in Tschetschenien gegeben.«
»Keiner würde zu behaupten wagen, die Amerikaner hätten Hitler besiegt.«
»Ich habe selbst vor dem Weißen Haus gestanden. Und ich habe das Gefühl, dass ich betrogen wurde.«
»Was wäre, wenn der Putsch gesiegt hätte? Er hat doch gesiegt! Das Dserschinski-Denkmal wurde gestürzt, aber die Lubjanka ist geblieben. Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.«
»Mein Leben hätte sich nicht verändert …«
Davon, wie Dinge plötzlich den gleichen Wert
bekamen wie Ideen und Worte
»Die Welt ist in Dutzende bunte Splitter zerbrochen. Wie sehr hatten wir uns gewünscht, dass sich der graue sowjetische Alltag in die süßen Bilder aus amerikanischen Filmen verwandelt! Daran, wie wir vor dem Weißen Haus gestanden hatten, dachte kaum noch jemand … Jene drei Tage haben die Welt erschüttert, aber uns haben sie nicht erschüttert … Zweitausend Menschen nehmen an einer Kundgebung teil, und die Übrigen gehen vorbei und schauen sie an, als wären das Idioten. Es wurde viel getrunken, bei uns wird immer viel getrunken, aber damals ganz besonders. Die Gesellschaft war erstarrt: Wohin gehen wir? Wird nun der Kapitalismus kommen oder ein guter Sozialismus? Kapitalisten sind fett und böse – das hat man uns von klein auf eingetrichtert … (Sie lacht.)
Plötzlich war das ganze Land voller Banken und Verkaufskioske. Ganz neue Dinge tauchten auf. Andere als die derben Stiefel und Omakleider, Sachen, von denen wir immer geträumt hatten: Jeans, Lammfellmäntel … Damenunterwäsche und gutes Geschirr … Alles schön und farbenfroh. Unsere sowjetischen Dinge waren grau und asketisch, sie sahen immer nach Militär aus. Die Theater und Bibliotheken waren nun leer … An ihre Stelle traten Märkte und kommerzielle Geschäfte … Alle wollten glücklich sein, und zwar sofort. Wie Kinder entdeckten sie eine ganz neue Welt … Sie fielen nun im Supermarkt nicht mehr in Ohnmacht … Ein Bekannter von mir wurde Geschäftsmann. Er erzählte: Beim ersten Mal habe ich tausend Büchsen löslichen Kaffee mitgebracht – die waren in ein paar Tagen alle, dann habe ich hundert Staubsauger gekauft, auch die gingen im Nu weg. Jacken, Pullover, jeder erdenkliche Krimskrams – nur her damit! Alle kauften sich neue Klamotten und Schuhe. Tauschten ihre Haushaltsgeräte aus und ihre Möbel. Renovierten ihre Datscha … Wollten hübsche Zäune und Dächer … Wenn meine Freunde und ich heute daran zurückdenken, müssen wir furchtbar lachen … Wie die Wilden! Die Menschen bei uns waren bettelarm. Sie mussten alles erst lernen … Zu Sowjetzeiten war es in Ordnung, viele Bücher zu besitzen, aber kein teures Auto oder Haus. Wir lernten, uns gut zu kleiden, gutes Essen zu kochen, zum Frühstück Saft zu trinken und Joghurt zu essen … Bis dahin hatte ich Geld verachtet, weil ich es nicht kannte. In unserer Familie durfte nicht über Geld gesprochen werden. Das galt als peinlich. Wir sind in einem Land aufgewachsen, in dem es
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