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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Keller. Andererseits war es auch toll – das alles mitzuerleben …
    In den Banken standen die Leute Schlange, die ein Unternehmen gründen wollten – eine Bäckerei, einen Elektronikladen … Auch ich stand da. Und ich staunte, wie viele wir waren. Eine ältere Frau mit einer Strickmütze, ein Junge in einer Trainingsjacke, ein Kerl wie ein Schrank, der aussah wie ein Krimineller … Über siebzig Jahre hatte man uns erzählt: Geld macht nicht glücklich, das Beste im Leben bekommt der Mensch kostenlos. Liebe zum Beispiel. Aber kaum hatte man öffentlich verkündet: Treibt Handel, werdet reich – da war das vergessen. Alle sowjetischen Bücher waren vergessen. Diese Menschen waren ganz anders als die, mit denen ich zusammengesessen und auf meiner Gitarre geklimpert hatte. Ich konnte mit Müh und Not drei Akkorde spielen. Das Einzige, was diese Leute mit denen in den Küchen gemeinsam hatten, war, dass auch sie die Nase voll hatten von den roten Fahnen und diesem ganzen Mist: Komsomolversammlungen, Politunterricht … Der Sozialismus hielt den Menschen für dumm …
    Ich weiß sehr gut, was ein Traum ist. Meine ganze Kindheit lang wünschte ich mir ein Fahrrad, aber ich bekam keins. Wir waren arm. In der Schule habe ich unter der Hand mit Jeans gehandelt, am Institut mit sowjetischen Armeeuniformen und diversem Sowjetkram. Die Ausländer kauften das. Das war gewöhnlicher Schwarzhandel. Zu Sowjetzeiten bekam man dafür zwischen drei und fünf Jahren Gefängnis. Mein Vater rannte mit dem Riemen hinter mir her und schrie: ›Du Spekulant! Ich habe vor Moskau Blut vergossen, und mein Sohn macht solche Scheiße!‹ Was gestern noch als Verbrechen gegolten hatte, war nun ein Geschäft. Ich kaufte an einem Ort Nägel und woanders Absatzflicken, packte das zusammen in eine Plastiktüte und verkaufte es als neue Ware. Ich brachte Geld nach Hause und kaufte ein, der Kühlschrank war immer voll. Meine Eltern rechneten dauernd damit, dass man mich verhaften würde. (Er lacht laut.) Ich handelte mit Haushaltswaren … Schnellkochtöpfe und Dampfgarer … Einen ganzen Autoanhänger voll hab ich aus Deutschland hergeschafft. Alles in großen Mengen. In meinem Zimmer stand ein alter Computerkarton voller Geld, nur so war das Geld für mich real. Du nimmst immer wieder Geld aus dem Karton, und es wird nicht alle. Ich hatte mir im Grunde schon alles gekauft: ein Auto, eine Wohnung … eine Rolex … Ich erinnere mich an diesen Rausch … Du kannst dir alle deine Wünsche erfüllen, alle deine geheimen Phantasien. Ich habe viel über mich selbst erfahren: erstens, dass ich keinen Geschmack habe, und zweitens, dass ich Komplexe habe. Ich kann nicht mit Geld umgehen. Ich wusste nicht, dass viel Geld arbeiten muss, dass es nicht einfach so rumliegen darf. Geld ist für den Menschen genauso eine Versuchung wie Macht oder die Liebe … Ich träumte … Und fuhr nach Monaco. Im Casino von Monte Carlo verspielte ich sehr viel Geld, einen ganzen Haufen. Ich konnte nicht aufhören … Ich war ein Sklave meines Kartons. Ist noch Geld drin oder nicht? Wie viel? Es musste immer mehr und mehr sein. Ich interessierte mich für nichts mehr, wofür ich mich früher interessiert hatte. Politik … Kundgebungen … Sacharow war gestorben. Ich ging mit zum Abschiednehmen. Hunderttausende Menschen … Alle weinten, auch ich. Und jetzt stand kürzlich über ihn in einer Zeitung: ›Ein großer Narr Russlands ist gestorben.‹ Da dachte ich: Er ist zur rechten Zeit gestorben. Als Solschenizyn aus Amerika zurückkam, haben sich alle auf ihn gestürzt. Aber er verstand uns nicht, und wir verstanden ihn nicht. Ein Ausländer. Er wollte zurück nach Russland, aber draußen war Chicago …
    Was ich ohne die Perestroika heute wäre? Ein kleiner Ingenieur mit lächerlichem Gehalt … (Er lacht.) Und jetzt habe ich meine eigene Augenklinik. Mehrere Hundert Menschen mitsamt ihren Familien, ihren Großmüttern und Großvätern sind von mir abhängig. Leute wie Sie wühlen in ihrem Inneren herum, reflektieren – ich habe dieses Problem nicht. Ich arbeite Tag und Nacht. Ich habe neue Ausrüstungen gekauft und meine Chirurgen zum Praktikum nach Frankreich geschickt. Aber ich bin kein Altruist, ich verdiene gut. Ich habe alles selbst erreicht … Ich hatte nur dreihundert Dollar in der Tasche … Angefangen habe ich mit Partnern, bei deren Anblick Sie in Ohnmacht fallen würden, wenn die jetzt hier reinkämen. Gorillas! Grimmiger Blick! Die sind nicht mehr da, sie

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