Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
quasi kein Geld gab. Ich verdiente wie alle meine hundertzwanzig Rubel – und das reichte mir. Das Geld kam mit der Perestroika. Mit Gaidar. Richtiges Geld. Statt der Spruchbänder ›Unsere Zukunft ist der Kommunismus‹ hing nun überall Werbung: ›Kauft …‹ Mach Reisen, wenn du willst. Paris … Spanien … Fiesta … Stierkampf … Davon hatte ich bei Hemingway gelesen – ich las davon und wusste, dass ich das niemals sehen würde. Bücher ersetzten das Leben … So endeten unsere nächtlichen Küchengespräche, und es begann das Geldverdienen, das Dazuverdienen. Geld wurde zum Synonym für Freiheit. Das beschäftigte alle. Die Stärksten und Aggressivsten wurden Unternehmer. Lenin und Stalin waren vergessen. So bewahrten wir uns vor einem Bürgerkrieg, sonst hätte es wieder ›Weiße‹ und ›Rote‹ gegeben. ›Für uns‹ und ›gegen uns‹. Dinge statt Blutvergießen … Das Leben! Wir wählten das schöne Leben. Niemand wollte einen schönen Tod, alle wollten ein schönes Leben. Etwas anderes ist, dass ›das Zuckerbrot nicht für alle reichte‹.« 7
»Die Sowjetzeit … Das Wort hatte einen heiligen, magischen Wert. Aus alter Gewohnheit wurde in den Küchen der Intelligenzija noch immer über Mandelstam geredet, hatte man beim Suppekochen einen Band Astafjew oder Bykau in der Hand, aber das Leben demonstrierte ständig, dass das nun nicht mehr wichtig war. Worte bedeuteten nichts mehr. 1991 … Wir hatten unsere Mutter mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht, und sie kam als Heldin wieder, sie hatte dort ununterbrochen geredet. Sie hatte von Stalin erzählt, von der Ermordung Kirows, von Bucharin … Die anderen hätten ihr am liebsten Tag und Nacht zugehört. Damals wünschten sich die Menschen, dass man ihnen die Augen öffnete. Vor kurzem war meine Mutter wieder im Krankenhaus, und diesmal hat sie die ganze Zeit geschwiegen. Nur fünf Jahre sind vergangen, aber die Wirklichkeit hat die Rollen neu verteilt. Die Heldin war diesmal die Frau eines großen Unternehmers … Allen stand der Mund offen, wenn sie erzählte … Von ihrem Haus – dreihundert Quadratmeter! Von ihren Dienstboten: Köchin, Kindermädchen, Chauffeur, Gärtner … Urlaub machte sie mit ihrem Mann in Europa … Museen, klar, aber vor allem Boutiquen. Die Boutiquen! Ein Ring mit soundso viel Karat, ein anderer … und Anhänger … und goldene Ohrclips … Das war was! Über den Gulag oder solche Dinge kein Wort. Was war, ist vorbei. Wozu jetzt noch mit den alten Leuten streiten.
Ich ging aus Gewohnheit noch manchmal ins Antiquariat – dort standen alle zweihundert Bände der ›Bibliothek der Weltliteratur‹ und die ›Abenteuerbibliothek‹ mit den orangeroten Einbänden, nach der ich mal verrückt gewesen war. Ich betrachtete die Buchrücken und atmete ihren Geruch ein. Da lagen Berge von Büchern! Die Intelligenzija verkaufte ihre Bücher. Natürlich sind die Menschen ärmer geworden, aber nicht deshalb haben sie ihre Bücher aus dem Haus gegeben, nicht nur wegen des Geldes – die Bücher haben sie enttäuscht. Auf ganzer Linie. Es gehörte sich nicht mehr, jemanden zu fragen: ›Was liest du denn gerade?‹ Zu vieles hat sich verändert im Leben, und davon steht in den Büchern nichts. Aus den russischen Romanen lernt man nicht, wie man im Leben erfolgreich ist. Wie man reich wird … Oblomow liegt auf dem Sofa, und Tschechows Helden trinken die ganze Zeit Tee und beklagen sich über das Leben … (Sie schweigt.) Gott behüte dich davor, in einer Zeit der Veränderungen zu leben, sagen die Chinesen. Kaum jemand von uns ist geblieben, wie er war. Die anständigen Leute sind irgendwie verschwunden. Überall Ellenbogen und Zähne …«
»Wenn es um die Neunziger geht … Ich würde nicht sagen, dass das eine schöne Zeit war, sie war abscheulich. Eine Hundertachtzig-Grad-Wende in den Köpfen … Manche haben das nicht ausgehalten, die Kliniken für psychisch Kranke waren überfüllt. Ich habe dort meinen Freund besucht. Einer brüllte: ›Ich bin Stalin! Ich bin Stalin!‹, ein anderer: ›Ich bin Beresowski! Ich bin Beresowski!‹ Eine ganze Station voller Stalins und Beresowskis. Auf den Straßen wurde ständig geschossen. Unglaublich viele Menschen wurden ermordet. Jeden Tag gab es kriminelle Auseinandersetzungen. Jeder wollte etwas an sich reißen. Den anderen zuvorkommen. Bevor die auch noch ihre Kinder und Enkel versorgten. Manche wurden ruiniert, manche eingesperrt. Vom Thron in den
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