Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Lenin- und Stalin-Bilder. Die Stalin-Bilder überwiegen. Plakate: »Wir haben euren Kapitalismus satt!«‚ »Hisst die rote Fahne auf dem Kreml!«. Das gewöhnliche Moskau steht am Straßenrand, das »rote« wälzt sich wie eine Lawine den Fahrdamm entlang. Zwischen ihnen gibt es ständig Wortgefechte, die hier und da in Prügeleien ausarten. Die Polizei ist außerstande, diese beiden Moskaus auseinanderzuhalten. Und ich komme kaum nach mit dem Mitschreiben des Gehörten …
»Beerdigt Lenin, und zwar ohne Ehren.«
»Amerika-Lakaien! Wofür habt ihr das Land verkauft?«
»Ihr seid dumm, Brüder …«
»Jelzin und seine Bande haben uns alles weggenommen. Trinkt! Werdet reich! Irgendwann wird das alles ein Ende haben …«
»Sie trauen sich nicht, dem Volk offen zu sagen, dass wir den Kapitalismus aufbauen? Alle sind bereit, zur Waffe zu greifen, sogar meine Mutter, eine Hausfrau.«
»Mit einem Bajonett kann man allerhand erreichen, aber es sitzt sich darauf unbequem.«
»Ich würde die verfluchten Burshuis 8 mit Panzern zerquetschen!«
»Den Kommunismus hat sich der Jude Marx ausgedacht …«
»Uns kann nur einer retten – der Genosse Stalin. Wenn wir den nur zwei Tage lang hätten … Er würde alle erschießen, dann könnte er wieder gehen und sich ins Grab legen.«
»Ruhm dir, Herr! Ich bete zu allen Heiligen.«
»Stalin-Schergen! Das Blut an euren Händen ist noch nicht trocken. Warum habt ihr die Zarenfamilie ermordet? Nicht einmal die Kinder habt ihr verschont.«
»Ein großes Russland ist ohne den großen Stalin nicht zu schaffen.«
»Sie haben dem Volk das Hirn zugeschissen …«
»Ich bin ein einfacher Mann. Die einfachen Leute hat Stalin nicht angerührt. In unserer Familie hat niemand gelitten – das waren alles Arbeiter. Bei den Natschalniks sind Köpfe gerollt, der einfache Mensch wurde in Ruhe gelassen.«
»Rote KGB -Bande! Bald behauptet ihr noch, dass es keine Lager gegeben hat außer Pionierlagern. Mein Großvater war Hauswart.«
»Meiner Landvermesser.«
»Meiner Lokomotivführer …«
Vor dem Weißrussischen Bahnhof hat eine Kundgebung begonnen. Die Menge bricht mal in Beifallklatschen aus, mal in Rufe: »Hurra! Hurra! Es lebe …« Am Ende hallt der ganze Platz wider von Gesang, zur Melodie der Warschawjanka, der russischen Marseillaise, wird ein neuer Text gesungen: »Werft die liberalen Ketten nun nieder, stürzen wir das kriminelle Regime!« Danach werden die roten Fahnen eingerollt, manche eilen zur Metro, andere stellen sich in die Schlangen vor den Kiosken mit Piroggen und Bier. Nun beginnt das Volksfest. Sie tanzen und amüsieren sich. Eine alte Frau mit einem roten Kopftuch tanzt stampfend um einen Ziehharmonikaspieler herum und singt: »Wir tanzen voll Freude um die Tanne herum, in unserer Heimat, da haben wir’s gut, drum tanzen wir fröhlich und singen vergnügt, unser Lied ist für Stalin, damit er sich freut …« Schon an der Metro, höre ich betrunkenes Grölen: »Fick das Schlechte aus mir raus, fick das Gute in mich rein.«
Davon, dass wir uns entscheiden müssen:
Die große Geschichte oder das banale Leben?
Vor dem Bierkiosk in unserem Hof ist es ständig laut. Da stehen immer ganz unterschiedliche Leute: ein Professor, ein Arbeiter, ein Student, ein Obdachloser … Sie trinken und philosophieren. Hören Sie die Stimme des Volkes …
»Ich bin ein Trinker. Warum ich trinke? Mein Leben gefällt mir nicht. Ich möchte mit Hilfe des Alkohols einen phantastischen Salto machen, der mich plötzlich an einen anderen Ort versetzt. Wo alles gut und schön ist.«
»Für mich lautet die Frage konkreter: Wo will ich leben – in einem großen Land oder in einem normalen?«
»Ich habe das Imperium geliebt … Das Leben nach dem Imperium ist langweilig geworden. Uninteressant.«
»Eine große Idee verlangt Blutvergießen. Heutzutage will niemand mehr irgendwo sterben. In irgendeinem Krieg. Alles dreht sich nur um Geld. Aber wenn sie so darauf bestehen, dass wir ein Ziel haben, wie soll das denn aussehen? Jedem einen Mercedes und eine Reise nach Miami?«
»Der russische Mensch muss an etwas glauben … An etwas Lichtes, Erhabenes. Das Imperium und der Kommunismus, das steckt tief in uns. Das Heroische ist uns nahe.«
»Der Sozialismus hat den Menschen gezwungen, in der Geschichte zu leben … an etwas Großem teilzuhaben …«
»Scheiße! Wir sind ja so
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