Seehaie
diesem überkam Joanna Louredo, von ihren
Kollegen nur Jo genannt, manchmal so etwas wie Wehmut. Sie war sich sicher,
ihre Eltern würden noch immer in Deutschland leben, gäbe es mehr Sommer wie
diesen. Ende letzten Jahres hatten sie endgültig vor dem deutschen Wetter
kapituliert und waren nach Portugal zurückgekehrt, um sich in Vigo von ihrem
Ersparten ein kleines Hotel zu kaufen.
Jo war in Baden-Württemberg geblieben. Sie hatte hart
für ihre Laufbahn als Kommissarin bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Nach der
Landespolizeischule in Freiburg war sie vor etwa einem halben Jahr als
frischgebackene Kriminalhauptmeisterin und Kommissarsanwärterin zur Kripo
Überlingen gekommen. Die Arbeit hier machte ihr Spaß, auch wenn sie nicht mit
allen Kollegen auf Anhieb klarkam. Aber das war ein anderes Thema. Jetzt musste
sie erst mal einen freien Parkplatz ergattern.
So spendabel sich das Land beim Neubau des
Dienstgebäudes auch gezeigt hatte, die schon immer knappe Parkfläche war
seinerzeit nicht erweitert worden. Da vorne, in der zweiten Reihe, war da nicht
eine Lücke? Tatsächlich! Jo drückte erleichtert den Fuß aufs Gaspedal und
steuerte den freien Platz an, als plötzlich ein roter Flitzer frech an ihr
vorbeiröhrte und die Lücke schloss.
Jo bekam einen roten Kopf. »Dieser Arsch!«, entfuhr es
ihr. Das war Kalfass! Ludger Kalfass, Jos Kollege und Intimfeind. Vor zwei
Jahren hatte ihn das Personalamt als Kriminalobermeister in Überlingen
»abgestellt«, seitdem klebte er an diesem Stuhl. Kein noch so übertriebener
Eifer hatte daran etwas zu ändern vermocht.
»Liebenswürdig wie immer«, konnte sich Jo einen
Kommentar nicht verkneifen. »Wenn Egoismus wehtäte, müsstest du dich vor
Schmerzen krümmen.« Am liebsten hätte sie diesen Widerling gesiezt, doch das
unter Kollegen übliche »Du« konnte sie schlecht ignorieren. Aus den
Augenwinkeln nahm sie im zweiten Stock des Gebäudes eine stämmige weißhaarige
Männergestalt wahr. Der Chef war also bereits im Haus.
»Wer zuerst kommt, parkt zuerst, wusstest du das
nicht, liebe Kollegin? Oder willst du mich für den knappen Parkraum
verantwortlich machen?« Kalfass schloss die Wagentür und rückte seine randlose
Brille zurecht, ehe er grinsend in Richtung Hintereingang verschwand.
Zehn Minuten später betrat Jo das Büro.
»Gut, dass du endlich kommst«, bemerkte Kalfass
süffisant, ohne den Blick von seinem Bildschirm zu nehmen. »Die Antwort vom LKA ist da. Der Tote bei dem Überfall in Owingen geht
eindeutig auf das Konto der Rumänen.«
Noch ehe Jo eine passende Antwort einfiel, öffnete
sich die Tür zum Nebenraum. Mit einem übertrieben zackigen »’n Morgen, die
Herrschaften!« stürmte Hauptkommissar Wolf in den Raum. Trotz der Hitze trug er
in waghalsig schrägem Sitz ein Barett auf dem Kopf. Jo konnte sich nicht
erinnern, ihn jemals ohne Kopfbedeckung gesehen zu haben. Angeblich versteckte
er darunter eine kahle Stelle, die ihm ein Messerstecher bei der Festnahme
zugefügt hatte.
»Jo, nimm deine Tasche und überlass die Rumänen Onkel
Lu. Wir müssen weg.«
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Wir fahren nach Wallhausen. Ein Suizid.«
Bei dem spöttisch hingeworfenen »Onkel Lu« hatte
Kalfass ruckartig den Kopf gehoben. Jo wusste, dass er diesen Spitznamen auf
den Tod nicht ausstehen konnte. Es ärgerte ihn maßlos, dass Wolf ihn immer
wieder verwendete. Jo hatte ihm den Namen verpasst, nachdem er auffallend häufig
von einer jugendlich klingenden Frau angerufen wurde, die er hartnäckig als
seine Nichte ausgab.
»Seit wann kümmern wir uns um Wallhausen?« Die
Missbilligung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Das ist die
gegenüberliegende Seeseite, da sind die Kollegen aus Konstanz zuständig.«
Abfällig fügte er hinzu: »Und dann noch ein Suizid!«
»Später«, beschied ihn Wolf und war bereits unter der
Tür. Jo hatte Mühe, ihm zu folgen.
Zehn
Minuten später standen sie am Bug der »Möwe« und ließen sich die frische Seeluft
um die Nase wehen. Jo genoss die Überfahrt auf der kleinen Personenfähre, den
Blick auf das näher kommende Südufer des Überlinger Sees gerichtet, auf den
bunten Mix der im Sonnenglast flirrenden Landschaft, die so wohltuend auf die
Seele wirkte. Wolf hingegen schien gegen solcherlei Anwandlungen gefeit. Er
hatte sich eine seiner gefürchteten filterlosen Gitanes angesteckt, die er
stets nur zur Hälfte rauchte, ganz so, als würde ihm selbst übel davon.
Die Überfahrt nach Wallhausen
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