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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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habe sie angewiesen, mir den Eindringling auszuliefern. Sie haben es nicht getan.«
    Antaea schlang die Arme um sich und suchte nach einer Frage, die sie als nächste stellen könnte – irgendetwas, nur nicht das, was auf der Hand lag. Die Sekunden dehnten sich, bis ihr klar wurde, was sie da tat. Sie kapitulierte. »Wie sieht der Eindringling aus?«
    Sie kannte die Antwort bereits.
    Â»Er hat die Gestalt von Telen Argyre.«

16
    Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen. Alle drehten sich um, als Telen Argyre die winzige Hütte betrat, und das lag nicht nur daran, dass sie ebenso exotisch aussah wie ihre Schwester. Sie war kleiner, und ihr Gesicht war eher herzförmig, während das von Antaea die Form einer umgedrehten Träne hatte, aber die schmale Nase und die großen, weit auseinanderstehenden Augen waren die gleichen. Ihre schlichte Reisekleidung tat nichts, um ihre Figur zu verbergen.
    Sie war so schön, dass Chaison nicht sofort begriff, dass die plötzliche Aufmerksamkeit seiner Peiniger keineswegs auf Bewunderung zurückzuführen war.
    Er war heiser, denn er hatte aus voller Kehle in den Lumpen geschrien, den sie ihm zwischen die Zähne gestopft hatten. Sehen konnte er nur verschwommen, er fröstelte, war dabei aber schweißgebadet, und sein Herz fühlte sich an, als wollte es ihm die Brust sprengen. Nach seiner Gefangenschaft bei den Falken hatte er geglaubt, alle Methoden zu kennen, mit denen man Menschen foltern konnte, aber Gonlins Truppe hatte ihm Schmerzen zugefügt, die seine kühnsten Vorstellungen übertrafen.
    Dennoch … »Er hat uns nichts verraten«, meldete der Mann, der sich als Gonlin vorgestellt hatte. Ein blässlicher
Typ mit Froschgesicht und unstetem Blick, nicht das, was man sich unter einem großen Revolutionär vorstellte. Die anderen schauten dennoch zu ihm auf – oder hatten es getan, bis Telen Argyre den Raum betrat.
    Die hob jetzt das spitze Kinn, kniff die Augen zusammen und musterte Chaison mit Schlangenblick. Dann drehte sich ihr Kopf – fast als wäre er vom Rest ihres Körpers unabhängig –, und sie blinzelte Gonlin an. »Wo ist die andere?«, fragte sie. »Die Schwester?«
    Gonlin öffnete den Mund. »Ich dachte … sie wäre bei dir …« Sein Gesicht verfinsterte sich, und er fuhr auf seine Männer los. »Hatte ich nicht angeordnet, sie zu begleiten? Wo ist Erik?«
    Chaison versuchte ironisch zu glucksen, brachte aber keinen Ton heraus. Telen Argyre hörte es offenbar dennoch; ihr Kopf drehte sich mit einem Ruck in die Ausgangsstellung zurück, und ihr Blick heftete sich auf ihn. »Warum haben Sie ihnen nicht gesagt, was sie wissen wollen?« Sie schien eher verblüfft als zornig zu sein.
    Er spuckte Blut nach ihr. Sie wich aus und wandte sich abermals an Gonlin. »Hol Wasser. Seine Kehle ist trocken.« Hinter ihr konnte Chaison undeutlich Männer und Frauen erkennen, die in die Hütte herein und wieder hinaus eilten. Sie riefen einander und den Leuten draußen Fragen und Anweisungen zu. Er bemühte sich zu lachen.
    Jemand brachte eine Weinflasche mit Wasser, und er nahm einen Schluck. Dann leckte er sich die Lippen und sah grinsend zu Gonlin und Argyre auf. »W-was ist, wenn ich es Antaea v-verraten habe?«

    Gonlin war sichtlich erschrocken, aber Antaeas Schwester schüttelte nur den Kopf. »Das haben Sie nicht. Aber warum haben Sie nicht preisgegeben, wo sich der Schlüssel befindet? Was die mit Ihnen machen, könnte Sie bald umbringen.«
    Â»Was Sie mit mir machen.« Sie zuckte nicht einmal die Achseln, sondern starrte ihn nur unverwandt an. Endlich stammelte er: »M-man hat mich bei den F-falken m-monatelang gefoltert. M-man hat mir Fragen gestellt, obwohl man wusste, dass ich sie nicht b-beantworten konnte. Das war eine g-gute Vorübung.«
    Den Rest verschwieg er. Er hatte sich während dieser Folterungen und danach in der schwarzen Leere seiner Zelle Dutzende von Malen aufgegeben. Er hatte sich in den Tod gefügt und alles losgelassen bis auf einen einzigen dünnen Faden, der ihn noch mit dem Leben verband. Venera hatte er nie vergessen.
    Sie war der einzige Teil seines Lebens, der noch unvollendet war, und er hatte die Gelegenheit zur Flucht nur genützt, um sie vielleicht wiederzusehen. Darius in seine Heimat zurückzubringen war ein guter Vorwand gewesen, der ihm half, in Augenblicken der

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