Sehnsucht der Dunkelheit (German Edition)
ins Wasser, ernsthaft versucht, sich in die eisigen Wellen zu stürzen, um ihn zu suchen. Aber sie beherrschte sich. Tränen traten ihr in die Augen, aber sie hob ihr Gesicht in den Nebel. Lebewohl.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und begab sich auf den Rückweg zur Hütte. Mit jedem Schritt, der sie von ihrer Vergangenheit wegführte, fühlte sie sich leichter, so als ob ein Gewicht von ihr genommen worden wäre, das ihr den Brustkorb zusammengepresst hatte. Die Sehnsucht, die Verwirrung, die Verzweiflung … alles löste sich auf.
Sie seufzte. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie nach langer Zeit endlich wieder durchatmen.
Im Schlafzimmer zupfte sie Rubys Decke zurecht und beugte sich hinab, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ich werde mich um dich kümmern, Ruby. Immer.
Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit überkam Carrow, und eine Energiewelle erhob sich in ihr. Trotz des Wendelrings um ihren Hals hatte sie es gespürt …
Aus mir selbst heraus?
Mit einem erstaunten Lachen legte sie sich in das andere Bett. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf diese Antwort gewartet. Carrow hatte immer gewusst, dass sie ihre Energie aus dem Glück anderer beziehen konnte. Ihr war nur nie der Gedanke gekommen, dass sie selbst ihre eigene Quelle sein könnte – weil sie noch nie zuvor wahrhaft glücklich gewesen war. Das war ihr erst gelungen, als sie ihre Vergangenheit gehen lassen konnte und eine neue Zukunft willkommen hieß.
Sie starrte an die schäbige Decke, die ihr jetzt völlig verändert erschien. Weil ich jetzt anders bin.
Dann lächelte sie, selbst dann noch, als sie allmählich in den Schlaf hinüberglitt.
Doch schon kurz darauf saß sie genau wie Ruby mit einem Schlag aufrecht im Bett.
»Hast du das gefühlt, Crow?«, murmelte das Kind. »Etwas Schlimmes kommt auf uns zu.«
44
»Was willst du von mir, Mariketa?«, fragte Conrad Wroth, sobald er sich mitsamt seiner Frau in die große Halle von Andoain transloziert hatte.
Gleich nachdem Mari es geschafft hatte, sie ausfindig zu machen – was an sich schon eine Meisterleistung darstellte – , hatte sie sie gebeten, sich hier mit ihr und Bowen zu treffen.
»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte sie zu dem hoch aufragenden Vampir mit den roten Augen. Der Schlüssel.
Conrad war ein Unsterblicher, der vom Bösen erfüllt war – in Form der durch Blut übertragenen Erinnerungen zahlreicher Vampire – , und er war von Néomi besessen, seiner Phantombraut, die so unberührbar wie Rauch war. Zum Glück stand Conrad noch in Maris Schuld. Die Ballerina Néomi, die inzwischen zu Maris Freundinnen zählte, verdankte ihr ihr Leben.
»Was immer du willst.« Conrads estnischer Akzent war nicht zu überhören.
»Also, es ist folgendermaßen … «, begann Mari. »Ihr wisst doch, dass in letzter Zeit einige Mythianer von diesem seltsamen Orden der Sterblichen entführt wurden, oder? Darunter ist auch meine beste Freundin Carrow. Aber ich habe herausgefunden, wo sie alle festgehalten werden.«
Obwohl Mari diese Störung der Mythenwelt von kataklysmischem Ausmaß spüre, schien es einfach unmöglich, eine zweite Meinung oder Bestätigung durch andere Hexen zu erhalten. Nïx konnte sie nirgendwo finden, also war von ihr auch keine Hilfe zu erwarten.
In den Augen der Mythenwelt war Maris mystischer Anhaltspunkt nichts weiter als eine unbegründete Ahnung.
Sie fühlte sich schon wie dieser mutige Seismologe, der eine kurzzeitige Veränderung von ungeheurer Stärke entdeckt hatte, aber niemanden davon überzeugen konnte, dass ihnen ein gewaltiges Erdbeben bevorstand.
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Conrad.
»Wir brauchen jemanden, der mich zu Carrow teleportiert«, meldete sich Bowen zu Wort.
» Uns «, korrigierte Mari. »Der uns zu Carrow teleportiert.«
Bowen packte sie am Oberarm. »Verdammt noch mal, Frau! Wir haben das doch besprochen!«
Sie hatten das immer und immer wieder durchgekaut, aber ihr Wolf war einfach überfürsorglich.
»Und ich werde nicht erlauben … «
»Wie hast du sie gefunden?«, unterbrach Néomi sie sanft, aber eindringlich. Ihr französischer Akzent verlieh ihren Worten einen gewissen Charme.
»Ich habe die unsterbliche Energie gespürt, die sich an diesem einen Ort konzentriert, und es ist mir gelungen, die Koordinaten in einen Spiegel zu überführen. Um ehrlich zu sein: Es hat sich angefühlt, als ob ein verdammter Krieg ausgebrochen wäre.«
Conrad und Néomi schwiegen eine ganze Weile. Schließlich sagte
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