Sehnsucht nach Geborgenheit
1. KAPITEL
Wessen Baby würde sie wohl im nächsten Jahr um diese Zeit sein? Seins? Oder das irgendeines unbekannten Paares?
Mit finsterer Miene und zusammengebissenen Zähnen hielt Rechtsanwalt Jack Kelleher das vierzehn Monate alte koreanische Waisenkind auf dem Arm, während ein Geistlicher der St. Johns Church im nahegelegenen Leesburg die
Grabpredigt hielt. Jack und seine verstorbene Frau Sharon waren gerade dabeigewesen, Kassie Elizabeth zu adoptieren.
Die Mandelaugen des Babys waren fest auf Jacks Krawatte gerichtet, während es damit spielte, ohne auf die traurige Zeremonie zu achten.
Vertrauensvoll ließ Kassie ihre Beinchen
gegen den kräftigen Körper des Mannes baumeln.
Eine Brise wehte über den Friedhof und zerzauste Jacks dichtes dunkles Haar. Es war Ende März, ein frischer, nasskalter Tag, an dem die Sonne sich nur selten über Virginia zeigte, um die feuchte Erde und die wartenden Knospen an den Bäumen zu erwärmen.
Die Adoption würde frühestens in sechs Monaten abgeschlossen sein. Jetzt, da Sharon tot war und die Adoptionsbehörde ihre kleinen Schützlinge nur an Elternpaare vergab, war fraglich, ob Jack
Kassie bekommen würde.
Als Witwer hatte Jack schlechte Chancen, obwohl er ein vorbildlicher Vater war und über ein sechsstelliges Jahreseinkommen verfügte. Dass dies ausgerechnet ihm, der als Anwalt für die Rechte der Väter kämpfte, widerfuhr, war eine Ironie des Schicksals. Er hatte sich mit Sharon zusammengerauft, um ein Kind zu adoptieren, und dass seine Frau vorher gestorben war, erschien ihm besonders paradox und ungerecht.
Hier stehe ich und tue so, als würde ich trauern, dachte er verbittert. Dabei empfand er nichts als ein Gefühl der Leere. Bis zur Erleichterung darüber, Kassie behalten zu dürfen, war es noch ein weiter Weg.
Vielleicht konnte er Liz dazu überreden, ihm zu helfen.
Während er auf den Geistlichen und die gelben Gladiolen auf dem Sarg starrte, dachte Jack an seine schlanke rothaarige Schwägerin, die in einem eleganten maßgeschneiderten schwarzen Kostüm dicht neben ihm stand. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr seinen Plan schilderte? Würde sie sofort nein sagen? Oder erst nachdenken wollen? Zehn zu eins, dass der Gefallen, um den er sie bitten würde, für sie ein zu großes Opfer bedeutete. Für ihn dagegen wäre es alles andere als ein Opfer, sie um sich zu haben. Sie danach wieder gehen zu lassen würde jedoch sehr schwer werden.
Liz und er kannten sich schon sehr lange - fast einen Monat länger, als er Sharon gekannt hatte. Sie waren gegnerische Anwälte in einem Sorgerechtsprozess gewesen, aus dem Jacks Mandant, der Vater der Kinder, als Sieger hervorgegangen war.
Zwischen ihm und Liz hatte es gefunkt - sowohl im juristischen Streit der Argumente als auch erotisch. Ihr scharfer Verstand, ihr selbstsicheres Auftreten und ihre anmutige Eleganz verzauberten ihn.
Als er sie nach dem Richterspruch zu einem Drink einlud, nahm sie an. Doch zu seinem Leidwesen wurde nicht mehr daraus, da sie beide ihrer Meinung nach „zu verschieden" waren. Sie war eine unabhängige und ehrgeizige Frau, er ein Anwalt, der gerade eine berufstätige Mutter vor Gericht fertiggemacht hatte.
In genau diesem Moment schlenderte Sharon in die Bar, in der er und Liz saßen, und hinderte ihn daran, Liz eine Antwort darauf zu geben. Liz machte ihn mit ihrer Schwester bekannt. Erstaunt erfuhr er, dass sie Zwillinge waren, denn die beiden sahen einander überhaupt nicht ähnlich.
„Wir sind zweieiig", erklärte Sharon lachend.
Kurz darauf ging Liz telefonieren, und Sharon und er plauderten weiter. Spontan fragte er sie, ob sie mit ihm essen gehen würde auch um Liz zu beweisen, was für einen Mann sie sich entgehen ließ.
Blond, fröhlich und äußerst charmant, tröstete Sharon ihn rasch über Liz' Abfuhr hinweg. Noch am selben Abend landete er mit ihr im Bett und traf sie noch ein paarmal, bevor der nächste zeitraubende Fall ihn in Anspruch nahm. Einen Monat nach ihrem letzten Rendezvous verkündete sie zu seinem Entsetzen, dass sie ein Baby von ihm erwartete.
Das Gefühl, dass er Liz nicht sonderlich viel bedeutete, nahm während der fünfjährigen Ehe mit ihrer Schwester nur noch zu.
Wenn sie einander an Feiertagen oder auf Familienfesten begegneten, gerieten sie wegen völlig belangloser Dinge aneinander. Emotional blieb sie stets auf Distanz, aber sie respektierte ihn, und als Kassies Adoptivtante hing sie sehr an dem kleinen Mädchen.
Jetzt, am Grab seiner
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