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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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besucht, ich bin in mein Elternhaus gefahren, ich habe sogar Schneerose besucht, aber ich weiß wenig über das äußere Reich. Ich habe Männer von Steuern, Dürre und Aufständen reden hören, aber diese Themen sind ganz weit weg von meinem Leben. Ich beschäftige mich mit Sticken, Weben, Kochen, der Familie meines Mannes, meinen Kindern, meinen Enkeln, meinen Urenkeln und Nushu. Mein Leben ist völlig normal abgelaufen – erst die Tochtertage, die Tage des Haarehochsteckens, die Reis-und-Salz-Tage, und nun das Stillsitzen.
    Hier bin ich denn also ganz allein mit meinen Gedanken und diesem Seidenfächer vor mir. Wenn ich ihn aufnehme, liegt er merkwürdig leicht in meinen Händen, wo er doch so viel Freude und so viel Kummer enthält. Ich lasse ihn schnell aufklappen, und das Geräusch der einzelnen Falten dabei erinnert mich an ein flatterndes Herz. Erinnerungen ziehen vor meinen Augen vorbei. In diesen letzten vierzig Jahren habe ich ihn so oft gelesen, dass ich alles darin auswendig weiß wie ein Kinderlied.

    Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Heiratsvermittlerin ihn mir gegeben hat. Meine Finger zitterten, als ich die Falten aufzog. Damals zierte eine einfache Girlande aus Blättern den oberen Rand, und nur eine einzige Nachricht tröpfelte die erste Falte hinunter. Zu der Zeit kannte ich noch nicht viele Nushu-Zeichen, deshalb las mir meine Tante den Text vor. »Es heißt, in deinem Haus gibt es ein Mädchen von gutem Charakter, das sich auf die weiblichen Künste versteht. Du und ich, wir sind im selben Jahr und am selben Tag geboren. Wollen wir Weggefährtinnen sein?« Wenn ich heute die zarten Striche betrachte, aus denen diese Zeilen bestehen, sehe ich nicht nur das Mädchen, das Schneerose war, sondern auch die Frau, die aus ihr werden sollte – beharrlich, offen, aufgeschlossen.
    Mein Blick streift über die anderen Falten des Fächers. Ich sehe unseren Optimismus, unsere Freude, unsere gegenseitige Bewunderung, die Versprechen, die wir uns gaben. Ich sehe, wie diese einfache Girlande schließlich ein kompliziertes Muster aus miteinander verschlungenen Schneerosen und Lilien wurde, um unser gemeinsames Leben als ein Paar laotong darzustellen, als zwei Weggefährtinnen. Rechts oben in der Ecke ist der Mond, der auf uns herabscheint. Wir sollten wie lange Ranken mit verschlungenen Wurzeln werden, wie Bäume, die eintausend Jahre stehen, wie ein Paar Mandarinenten, die ein Leben lang zusammenbleiben. In eine Falte schrieb Schneerose: »Wir sind einander zugetan und wollen unser Band niemals durchtrennen.« Aber in einer anderen Falte sehe ich Missverständnisse, gebrochenes Vertrauen und eine endgültig zugeschlagene Tür. Für mich war die Liebe ein so wertvoller Besitz, dass ich sie mit niemandem teilen konnte, und so trennte sie mich am Ende von dem einen Menschen, der meine Weggefährtin war.
    Ich lerne immer noch über die Liebe. Ich dachte, ich hätte sie verstanden – nicht nur die Mutterliebe, sondern auch die Liebe
zu den Eltern, dem Ehemann und der laotong . Ich habe die anderen Arten von Liebe erfahren – mitleidige Liebe, respektvolle Liebe, dankbare Liebe. Aber wenn ich mir unseren geheimen Fächer mit seinen Botschaften anschaue, die Schneerose und ich uns im Laufe vieler Jahre geschrieben haben, sehe ich, dass ich die allerwichtigste Liebe nicht zu schätzen wusste – die Liebe aus tiefstem Herzen.
    In den letzten Jahren habe ich für viele Frauen, die nie Nushu gelernt haben, ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben. Ich habe jeder Trauer und jeder Klage gelauscht, jeder Ungerechtigkeit und jeder Tragödie. Ich habe die unglücklichen Leben derjenigen aufgezeichnet, die ein elendes Schicksal ereilte. Ich habe alles gehört und alles aufgeschrieben. Aber wenn ich auch viel über die Geschichten von Frauen weiß, so weiß ich über die Geschichten von Männern fast nichts, außer dass gewöhnlich ein Bauer dazugehört, der gegen die Natur kämpft, ein Soldat in der Schlacht oder ein einsamer Mann auf einer inneren Suche. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, sehe ich, dass es Elemente der Geschichten von Frauen und Männern enthält. Ich bin eine bescheidene Frau mit den üblichen Klagen, aber im Inneren kämpfte ich eine Art Männerschlacht zwischen meiner wahren Natur und dem Menschen, der ich hätte sein sollen.
    Ich schreibe diese Seiten für diejenigen, die im Jenseits wohnen. Päonie, die Frau meines Enkels, hat versprochen, dafür zu sorgen, dass sie bei meinem Tode

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