1643 - Die Templer-Katakombe
Vater!
Beinahe hätte sie gelacht. Ja, sie hatte einen Vater, aber sie hatte ihn doch nicht. Seit Jahren waren sie sich nicht mehr begegnet. Genau seit dem Tag, als er sich aus dem Staub gemacht hatte. Seine Frau und die Tochter verlassen, ohne viel zu sagen. Er hatte nur erklärt, dass keine andere Frau dahintersteckte, dass er dennoch gehen müsste, um gewisse Dinge zu klären.
Welche das waren, das hatte er weder Ellen noch ihrer Mutter anvertraut.
Er war einfach fort gewesen, doch richtig im Stich gelassen hatte er sie nicht. In regelmäßigen Abständen trafen Geldüberweisungen ein. Die Summe war ihnen stets in bar und durch die Post zugestellt worden, wobei es keinen Absender gab. Dass das Geld immer pünktlich eingetroffen war, sah Ellen jetzt noch als Wunder an.
Sie und ihre Mutter hatten es gut gebrauchen können. Es hatte sogar ausgereicht, um Ellen ein Studium zu finanzieren, und so hatte sie schließlich einen Job in einem Verlag bekommen. Mit dem Gehalt konnte sie keine Reiche tümer erwerben, aber es reichte aus, um die Wohnung zu bezahlen und sie zu ernähren.
Und jetzt wollte er sie treffen. Nur sie, nicht die Mutter, die auch noch lebte, jedoch über das Verschwinden ihres Mannes nicht hinweggekommen war, denn sie war in Depressionen verfallen, die sich besonders in der dunklen Jahreszeit zeigten.
Warum? Was war der Grund?
Ellen wusste es nicht. Ihr Vater hatte ihr keinen Hinweis gegeben, doch seine Stimme hatte sehr bittend und auch drängend geklungen. Das hatte Ellen nicht vergessen, und deshalb ging sie davon aus, dass ihr Vater in Schwierigkeiten steckte, was sie sich bei ihm gar nicht vorstellen konnte, denn sie sah ihn in ihrer Erinnerung stets als einen starken Menschen, den nichts erschüttern konnte.
Doch auch er war älter geworden und hatte den Jahren Tribut zollen müssen. Wahrscheinlich besann er sich jetzt darauf, dass er noch eine Familie hatte.
So leicht wollte Ellen es ihm nicht machen. Wenn er kam und sich entschuldigen wollte, würde sie das nicht akzeptieren. Da mussten schon härtere Geschütze aufgefahren werden, das stand für sie fest, allerdings wollte sie auch nicht zu hart vorgehen, denn bei seinem Anruf hatte er bestimmt nicht geschauspielert.
Sie zog den linken Ärmel ihrer dreiviertellangen Jacke zurück und schaute auf die Uhr. Dabei verzogen sich ihre Mundwinkel, denn Roland Radix, ihr Vater, hatte sich bereits um fünfzehn Minuten verspätet. Das sah sie nicht eben als gutes Zeichen an.
Aber er hatte ihr gesagt, dass sie auf jeden Fall warten sollte, weil es möglicherweise Schwierigkeiten gab, was sich ebenfalls gefährlich angehört hatte.
Also weiterhin warten. Ihr Handy stand auf Empfang. Die Nummer hatte sie ihrem Vater mitgeteilt. Es wäre an sich seine Pflicht gewesen, sie anzurufen, doch darauf wartete sie vergeblich.
Je mehr Zeit verging, umso stärker wurde ihre Nervosität. Das Rauchen hatte sich Ellen eigentlich abgewöhnt, jetzt aber kramte sie die Packung hervor und steckte sich das Stäbchen zwischen die Lippen. Die Flamme des Feuerzeugs schirmte sie mit der Hand ab, wie jemand, der nicht dabei erwischt werden wollte. Sie hielt die Zigarette zudem so, dass die Glut verdeckt wurde.
Auf dem Fleck stehen zu bleiben schaffte sie nicht. Ellen ging auf und ab. Bis zum Eingang der nicht sehr großen Kirche, der verschlossen war, und wieder zurück.
Kam er noch? Kam er nicht?
Ellen kamen Zweifel, die sie allerdings wegscheuchte, weil sie es nicht glauben konnte, dass ihr Vater sie versetzt hatte. Seine Botschaft hatte einfach zu intensiv geklungen.
Sie trat die Zigarette aus und blieb wieder dort stehen, wo sie schon immer gestanden hatte. Mittlerweile war es noch dunkler geworden. Die Nacht hatte ihr Tuch über der Stadt ausgebreitet. Der abendliche Herbstwind brachte den Geruch des Hafens mit. Er erinnerte sie stets an die weite Welt, die sie gern kennengelernt hätte. Doch von Fernreisen konnte sie nur träumen. Gerade jetzt in der Krise mussten alle den Gürtel enger schnallen.
Wenn sie nach vorn schaute, fiel ihr Blick auf einen Buschgürtel. Er war nicht mehr ganz so dicht wie noch vor Wochen, und so sah sie durch die Lücken das Schimmern der Lichter, das immer dann auftrat, wenn Autos über die wenig befahrene Straße fuhren.
Wieder verging Zeit. Wieder klopfte ihr Herz schneller. Immer intensiver achtete sie auf die Geräusche, die sie umgaben. An das Rascheln des Laubes, das der Wind über den Boden trieb, hatte sie sich gewöhnt,
Weitere Kostenlose Bücher