Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
Tür.
K APITEL 20
„Du solltest schlafen“, sagte Hi und zupfte ihr einige Haarspitzen aus der Stirn. Isabelle seufzte und rieb sich über die Schläfen. „Ich kann nicht“, sagte sie tonlos. „Der Arzt ist noch nicht zurück.“
Sie rieb sich abermals über die Schläfen. Seit ganzen vier Stunden wollte ihr niemand sagen, wie es Toshi ging. Wie in Trance hatte sie mitbekommen, dass Hi sie ins Krankenhaus fuhr, da sie nicht mit in den Krankenwagen durfte. Shin fuhr zurück, denn die Versammlung der Yakuza-Clans stand bevor. Isabelle erinnerte sich schwach, dass er auf dem Weg zum Treppenhaus noch einmal telefoniert hatte. Diesmal war es die Polizei. Er meldete eine Tote auf dem Dach des Wolkenkratzers. Der Gedanke, Yusuri einfach so tot dort zu lassen, hatte Isabelle schaudern lassen, aber keiner der anderen hatte sich darum geschert.
Jetzt saß sie in diesem nach Desinfektionsmittel riechenden Krankenhausgang und wartete. „Kannst du noch einmal fragen?“, bat Isabelle leise. In His Augen las sie die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens, aber die Engländerin stand trotz allem auf und ging zur Anmeldetheke, wie es sie hier auf jeder Etage gab. Sie wechselte einige Worte mit der Krankenschwester dahinter und kam dann zu Isabelle zurück. Ihr Kopfschütteln sagte genug.
Isabelle schloss die Augen. Das Warten zermürbte sie. Nicht zu wissen, wie es Toshi ging, machte sie wahnsinnig. Die Angst um ihn blendete alles andere aus. Sie konnte nur noch an ihn denken und bemerkte kaum den Becher mit heißem Tee, den Hi ihr besorgt hatte und hinhielt.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Es wurde Abend, schließlich Nacht. Die Ärzte baten die beiden Frauen zu gehen. Hi legte ihren Arm um Isabelle. „Leg dich ein wenig hin“, murmelte sie und brachte Isabelle dazu, von ihrem Plastikstuhl aufzustehen. „Ich bringe dich ins Sakura, damit du dich ausruhen kannst. Der Tag war hart für dich, und es hilft Toshi nicht, wenn er sich Sorgen um dich machen muss, weil du vor Erschöpfung zusammenbrichst.“
„Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt“, murmelte Isabelle mit brüchiger Stimme und spürte Tränen über ihre Wange laufen. Hi drückte sie an sich. „Nicht weinen, so schlimm ist es nicht. Wenn er tot wäre, hätten sie es uns gesagt.“
Isabelle wollte antworten, konnte aber nicht. Die Schluchzer schnürten ihr die Luft zum Atmen ab; zu sprechen war ihr unmöglich.
Vor dem Krankenhaus wartete eine schwarze Limousine, ähnlich der, die Toshi fuhr. Ein Mann im dunklen Anzug hatte ihnen den Rücken zugewandt und rauchte eine Zigarette.
„Oyabun?“, fragte Hi und der Mann drehte sich um. Es war Shin. Er sah ganz anders aus, als zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn zuletzt in Deutschland gesehen hatte. Jetzt erst konnte sie ihn sich genauer ansehen. Shin hatte abgenommen, die hohen Wangenknochen traten stärker hervor. Er wirkte angespannt, aber seine Miene löste sich, als er Isabelle entgegenkam und sie in die Arme schloss. Sie drückte sich an ihn und rang heiser nach Luft. Er hielt sie fest und strich ihr tröstend über den Kopf. Isabelle beruhigte sich nur langsam wieder und wischte sich die Tränen und das verlaufene Make-up mit einem Taschentuch fort, das Hi ihr reichte.
„Du bist immer noch so eine Heulsuse“, zog Shin sie sanft auf.
Isabelle lächelte, trotz der Tränen. „Und du immer noch so ein Idiot.“
Er drückte sie noch einmal. „Geht es dir gut?“
„Sie hat mich nicht verletzt“, antwortete Isabelle. „Aber ich weiß nicht, wie es Toshi geht. Und keiner will es mir sagen.“
„Diese Ärzte sind immer solche Geheimniskrämer. Ich bin sicher, morgen darfst du zu ihm.“
Isabelle schniefte, wie zu der Zeit, als sie sechs Jahre alt war. „Ich hoffe es.“
Shin fuhr sie ins Sakura View, und Hi verabschiedete sich vor dem Appartement. Sie wolle die Geschwister nicht stören, sagte sie direkt und zog sich zurück. Isabelle führte Shin in das Appartement und bot ihm einen Platz an. Sie suchte in der Bar nach Alkohol und fand eine Flasche Single-Malt. Mit zwei Gläsern und der Flasche setzte sie sich neben ihren Halbbruder. „Danke“, sagte er und nahm das Glas mit der hellen Flüssigkeit, das sie ihm reichte. Isabelle trank selbst einen Schluck und hustete, als der Alkohol unerwartet scharf ihre Kehle hinabfloss. Shin lachte leise und klopfte ihr auf den Rücken. „Übernommen?“
Isabelle lächelte schwach. „Etwas“, krächzte sie und hustete wieder. Shin klopfte ihr noch
Weitere Kostenlose Bücher