Seidenfessel - Maeda, K: Seidenfessel
stellte das Glas wieder auf den Tisch. Es war Mittag und Tokio zeigte sich unter ihnen von seiner geschäftigsten Seite. Dennoch meinte Shin, so etwas wie leise Wehmut in Toshis Blick zu sehen, als der aus dem Fenster sah. „Es wäre nicht gut, hier zu bleiben.“
„Und wo wollt ihr hingehen?“
Toshi zuckte mit den Schultern. „Isabelle möchte sich noch Kyōto ansehen. Später vielleicht Neuseeland oder Europa ... wer weiß? Wir haben genug Zeit.“
„Ich nehme an, ich darf auch nicht eure Hochzeit ausrichten?“
Sein älterer Freund schnaubte leise. „Wenn Isabelle es jemals schafft, sich für einen Termin und gar einen Ort zu entscheiden, bist du eingeladen, zu was immer du Lust hast“, schmunzelte er.
„Ja, sie war schon immer entscheidungsfreudig“, lachte Shin. Toshi nickte seinem zukünftigem Schwager zu. Seine Miene zeigte dabei aber eine Verträumtheit, die Shin niemals zuvor bei ihm gesehen hatte. Er schien ganz versunken in Gedanken an Isabelle.
Shin beglückwünschte sich selbst. Er wusste seine Schwester in guten Händen.
Das Oberhaupt der Yakuza sah auf, als die Tür zum Zimmer aufgeschoben wurde. Hi trat ein und begrüßte ihn mit einer Verbeugung. Shin erwiderte sie und stellte den Teebecher, den er gehalten hatte, ab. Die Zwillinge waren ebenfalls Teil von Toshis ‚Vermächtnis‘ an Shin. Er hatte dafür gesorgt, dass er seine Aufgabe auf die bestmögliche Weise wahrnehmen konnte. Die Finanzen des Yamanote-Clans waren geregelt, er selbst hatte Toshis beste Leibwächter zur Verfügung gestellt bekommen; nach den letzten Monaten war Shin mehr als einmal dankbar für His und Tsukis Anwesenheit.
„Was gibt es?“, fragte er Hi. Sie kniete sich an den Tisch und reichte ihm mit einem Schmunzeln eine Postkarte. Sie war grellbunt und zeigte eine grinsende Banane, die auf einem Surfbrett eine riesige Welle ritt.
Er drehte die Karte um und las darauf auf Deutsch: ‚Mach dich auf eine Hochzeit gefasst, Bruderherz!‘
Shin musste lächeln. Die Karte trug einen Poststempel aus Hawaii. Die Inseln waren bei Japanern als Urlaubsort beliebt, aber er war sich fast sicher, dass die beiden schon lange nicht mehr in dem tropischen Paradies zu finden waren. Toshi wusste, wie er seine Spuren verwischen musste, und so wie Shin ihn kannte, würde er Isabelle mit all seinen Fähigkeiten beschützen. Wenn nötig auch mit seinem Leben.
„Dann werden wir die beiden bald wieder begrüßen dürfen, Oyabun?“, weckte ihn His weiche, tiefe Stimme.
Er reichte ihr die Karte zurück. „Das hoffe ich“, sagte er schmunzelnd und zog sich eine neue Zigarette aus dem Päckchen auf dem Tisch. „Das hoffe ich doch sehr.“
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