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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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kannte es ja schon
    so nämlich war man zur Welt gekommen ich las schon lange nicht mehr im Koran (weil ich nach meinem Vater komme das ist alles) aber ich dachte oft dass es dort hieß
    wir seien ja auch schon tot gewesen
    vor unserer Geburt
    und ich erinnerte mich nicht an irgendeine Form von Qual oder Schmerz ich brauchte nicht mehr zur Schule zu gehen nicht zu lernen nicht über die Universität nachzudenken nicht über London nicht über Dich den ich verloren hatte ohne ihn je zu berühren
    der letzte Anruf
    bevor das Telefonnetz in unserem Stadtteil zusammenbrach kam dann vollkommen unerwartet von Dir Du hattest Tarik versprochen nach unserem Haus zu sehen Du riefst von Freunden aus an bei denen der Apparat noch funktionierte alles wäre in Ordnung an unserem verriegelten alten Haus in Betawiyn nur
    Abu Yusuf
    der Familienvater und Gärtner von nebenan der die Orangen- und Ginkobäume auf das Dach gepflanzt hatte und hin und wieder den strampelnden stämmigen kleinen Achmed unter den Arm geklemmt und so getan hatte als wolle er ihm den Hintern versohlen
    sei tot
    im Garten ihres Hauses bei Al-Mussayyib den er regelmäßig gepflegt hatte war er von seinen Eltern gefunden worden halb verkohlt neben seinem zerschmetterten blauen VW ein Schwarm von Hubschraubern habe in der Nacht Soldaten unserer Armee angegriffen die in einem nah gelegenen Palmenhain lagerten
    sie haben es nicht auf uns abgesehen hier im Kollateral-Land ich konnte zwei Nächte nicht schlafen die Gedanken an Achmed und Hind schmerzten als hätte ich zwischen Dornenranken nächtigen wollen wir
    sitzen auf den niedrigen warmen Steinmauern in der Sonne auf dem Dach und können uns
    nichts vorstellen
    Abdullah (mein ältester Cousin der Vater von Nuha) war Soldat er musste eine Tigris-Brücke verteidigen und Nawal gab ihm eine Plastiktüte mit Zivilkleidung die er rechtzeitig anziehen sollte man hatte sich auch einmal nicht vorstellen können dass so etwas im Irak möglich sein würde dass die Generäle Majore Kommandeure und so fort einfach verschwinden beziehungsweise nachhause gehen würden
    anstelle der kleinen verborgen unter einem Dachvorsprung lauernden Satellitenschüssel brachte Onkel Fuad plötzlich eine große nagelneue auf dem Dach an die er nur hatte lagern dürfen um sie an ausgewiesene Partei-Obere zu verkaufen wir erblickten sogleich
    die schicke schwarze Sicherheitsberaterin in einem nelkenroten Kostüm (auf BBC) daneben Mr Bush und einen Tastendruck später einen zwölfjährigen Bagdader Jungen mit Kopfverband der ihn verfluchte er lag unter einem halbtonnenförmigen Zelt mit verbranntem Oberkörper anstelle seiner Arme gab es nur zwei weiß umwickelte Stümpfe er rief wenn ihm die Ärzte keine neuen Hände gäben würde er sich umbringen
    Mr Bush brauchte sich so jemanden (solche Dinge) gar nicht vorzustellen all diese Toten und Verstümmelten über die hinweg ER uns befreite jeder in unserer Familie hasste Saddam Onkel Munirs ältester Sohn Khalid starb unter nie geklärten Umständen in einer Kaserne Faridas jüngere Schwester Fatima kam 1991 mitsamt ihren drei Kindern ums Leben als man ihren Mann jagte der angeblich beim Schiitenaufstand beteiligt gewesen war und mit einem Panzer auf ihr Haus schoss
    nur in den Nächten in denen wir fast wahnsinnig wurden bei dem Gedanken dass man Jasmin folterte
    hatte ich genügend Hass um mir einen solchen Krieg zu wünschen
    als wir hörten dass die Amerikaner schon am Flughafen seien kam Onkel Fuad bleich ins Wohnzimmer und erklärte er habe vor einer Stunde Saddam persönlich gesehen direkt vor der Abu-Hanifa-Moschee in Uniform mit Pistolengurt und einer Gebetskette aus Bernstein um den Hals umringt von Leibwächtern und jubelnden Anhängern
    das war nicht Saddam das war Al-Sahhaf der sich als Gorilla verkleidet hat und es war keine Pistole sondern eine Banane
    erklärte mein Vater und ab diesem Zeitpunkt
    schöpfte ich wieder Zuversicht denn seit der Verschleppung Jasmins hatte ich keinen dieser Witze mehr von ihm gehört und ich begann
    mir vorzustellen
    dass sich wirklich alles ändern könnte
    noch am selben Abend stürzten sie die Saddam-Statue auf dem Paradiesplatz wir sahen es auf drei Fernsehsendern wieder und wieder fast schon wie die Flugzeuge die ins World Trade Center krachten der 9. April als Antwort auf den 9. September nur war der Sturz vom Sockel
    so seltsam banal so mechanisch und langsam es waren auch nur wenige Menschen dort und man sah den weiten von einer

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