Das Lächeln der toten Augen
PROLOG
Das einsame Gehöft lag an der Küste von Nordjütland, etwa zwei Kilometer südlich von Lønstrup. Matt glänzten die Scheiben des kleinen Wohnhauses im Licht der untergehenden Sonne. Es war kalt geworden in Dänemark. Mats Lundgren hatte die kalten Monate des Jahres noch nie gemocht. Und dabei war es gerade mal November. Der Winter stand noch bevor. Stumm und in ohnmächtigem Schmerz schaute er hinaus auf das Meer.
Er hatte in ihre Augen geblickt, hatte fassungslos nach dem Sinn gefragt. Was bewegte sie in ihrem Alter zu dieser Tat, welcher Wahnsinn hatte sie dazu getrieben?
Es gab viele Gründe, warum Menschen freiwillig aus dem Leben schieden. Eine unglückliche Liebe, Vereinsamung oder eine unstillbare Todessehnsucht, aber diese Mädchen hatten doch erst am Anfang ihres Lebens gestanden. Außerdem gab es noch einen großen Unterschied.
Die Augen der Toten waren meist stumpf und leer, manchmal auch schreckensstarr geweitet und von einem kalten Glanz umgeben, doch nicht ihre Augen, nicht die Augen dieser Mädchen. Sie schienen glücklich, fast so, als sei der Tod nur die Pforte ins Paradies. Sie hatten sich nebeneinander gelegt, in einem mit weißer Farbe gezeichneten Kreis. Sie lagen darin, Kopf an Kopf, wie die Speichen eines Wagenrades, und hatten an die schmucklose Decke geblickt, ehe der Tod über sie kam. Doch ihre Gesichtszüge verrieten, dass es kein überraschender und schmerzvoller Tod gewesen war. Gemeinsam hatten sie ihr Ende erwartet.
»Wir sind fertig«, hörte er Loyen sagen. Langsam wandte er sich um. Im Hintergrund sah er die schwarz gekleideten Männer, die einen schmucklosen Zinksarg in den bereitstehenden Kombi trugen.
»Gibt es schon irgendeinen Anhaltspunkt?«
»Keine Spuren von Gewaltanwendung. Keine Spuren weiterer Personen im Zimmer. Keine Fußabdrücke, keine Fasern, einfach nichts.«
»Wie?«
»Medikamente, Gift. Das werden die Gerichtsmediziner in Aalborg schon feststellen. Wir haben in der Tasche eine silberne Schatulle mit weiteren Spritzen gefunden«, antwortete Loyen.
Mats Lundgren wandte sich erneut dem Meer zu.
»Sie müssen doch irgendwie hier herausgekommen sein«, sagte er nachdenklich.
Loyen zuckte mit den Schultern.
»Drei Mädchen zwischen sechzehn und zwanzig«, sagte Lundgren. »Eine Asiatin und zwei Mädchen mit dunkler Hautfarbe. Jemand muss sie gesehen haben, jemand muss sie vermissen. Wir müssen in allen benachbarten Wohnheimen nachfragen.«
Loyen nickte.
Olson kam schnaufend den Weg entlanggelaufen. Unmittelbar vor Lundgren blieb er stehen und atmete erst einmal tief durch.
»Und?«, fragte Lundgren.
»Ich habe Jaspers nach Hause geschickt«, antwortete Olsen. »Wir haben seine Angaben. Er wollte wie jeden Tag hinunter zum Strand, um nach seinen Reusen zu sehen, da fiel ihm die offene Eingangstür auf. Seit Jahren war niemand mehr hier draußen.«
»Weiß er, wem das Anwesen gehört?«
»Er sagt, einer alten Frau aus Thule. Doch den Namen und die genaue Adresse kennt er nicht. Sie hat sich schon lange nicht mehr hier blicken lassen.«
»Ich will wissen, warum sie das getan haben«, sagte Mats Lundgren nach einer Weile.
»Es gibt keinen Brief, wir haben alles durchsucht …«
»Erst wenn wir wissen, wer die Mädchen waren, wird es uns gelingen, mehr über die Hintergründe zu erfahren«, sagte Loyen.
»Du hast recht«, antwortete Mats Lundgren. »Lass uns zurück nach Hjørring fahren. Hier draußen werden wir keine Antworten auf unsere Fragen finden.« Er wandte sich um und ging auf dem schmalen Pfad zum Haus zurück.
Langeoog, sechs Monate später …
Die weiße Yacht schaukelte in den sanften Wellen des Hafenwassers auf und ab. Das dicke Tau hielt den schlanken Leib des Bootes im festen Griff gefangen. Es war kurz nach Mitternacht und die beiden Passagiere schliefen friedlich in der Kajüte.
Es war eine harte und anstrengende Überfahrt von Helgoland aus gewesen. Das Focksegel der Schärenyacht hatte sich in der steifen Brise aufgebläht und vor den Wind gestellt. In voller Fahrt hatten sie Strecke gemacht, ehe der Wind wechselte und von Nord auf Ost drehte. Mit halber Fahrt hatten sie schließlich Langeoog erreicht und das Boot an der Mole vertäut. Kurz darauf war die Dunkelheit auf die Insel geschlichen. Müde ließ sich der Skipper in die Hängematte fallen, die er zwischen Masten und Reling festgezurrt hatte. Seine Frau kochte auf dem Gaskocher seine Leibspeise, während er die Seekarten im fahlen Schein der Bootslampe
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