September. Fata Morgana
rollen würden dazwischen hob ein Chirurg in einer Klinik bei Hilla (noch vor Kurzem waren wir dort gewesen hatte ich an der Seite meiner Mutter vor den Ruinen von Babylon geschlafen) sein Skalpell und schrie in die Kamera dass es nach vierzig Operationen stumpf sei wie ein Brotmesser
die Mütter
griffen ein sofern sie noch die Kraft hatten und holten die Kleinen aus unserem Beduinenlager vorm Fernseher heraus von dem wir uns nicht reißen konnten das irre Auge auf die irrsinnige Welt in der wir zuhause sein mussten der Märchenerzähler von Bagdad war Al-Sahhaf der
INFORMATIONSMINISTER
Baghdad Bob der in olivgrüner Uniform mit schwarzem Barett vor einer völlig weißen wirklichkeitsentleerten Weltkarte saß und fürchterliche Verluste der Aggressoren verkündete das baldige Verenden der amerikanischen Riesenschlange in der Wüste die unglaublichen Siege unserer Truppen noch wenn ein Panzer über ihn rollt wird er erklären alles sei in Ordnung er sei schließlich die letzte irakische Tellermine knurrte Onkel Munir in dessen schweren alten Händen ich nie zuvor ein Gebetskettchen gesehen hatte
halbe Tage lang sahen wir auf Videos alte Hollywoodfilme ägyptische Schnulzen und endlose Zeichentrickserien von Disney mit den Kindern um sie zu beruhigen Märchen um Märchen bis einem jede Nachricht gleichgültig geworden war und man glaubte die Bomben krachten nur in den Lautsprechern unserer Apparate
meine Mutter
sah nie Fernsehen sie las sie kümmerte sich um Jasmin sie kochte und wusch ohne stärkere Gefühlsregungen zu zeigen sie blätterte im Koran und ich setzte mich manchmal einfach neben sie auf das Bett in dem schmalen Zimmer mit dem sie und Tarik hier vorliebnehmen mussten wir werden das hier durchstehen sagte sie stets wenn sie spürte dass ich einen Trost erwartete
mit Märchen mit Computerspielen (Sami und seine Cousins sobald der Strom wieder einsetzte) mit Jasmins stundenlangen Wiege-Bewegungengegen die ich oft anschreien wollte dagegen anschreien dass man sich an ihre stumpfe trancehaft verlorene Art gewöhnte an den Verlust ihrer hochmütigen funkelnden Persönlichkeit
sie haben es nicht auf uns abgesehen nicht auf die Zivilisten sonst wären wir alle schon längst tot beruhigt euch wartet ab
sagte mein Vater immer wieder sie haben es nicht auf uns abgesehen wir werden das hier durchstehen wir wiegten uns mit geschlossenen Augen stundenlang im Dunkeln wir krallten uns am Flimmern der Bildschirme fest während die Hauswände bebten sie hatten es nicht auf uns abgesehen wir stehen das durch die doppelte Kuckucksuhr meine Eltern meine großartigen unverletzlichen Eltern die draußen auf den Straßen offenbar durchsichtig wurden oder durchlässig für Granatsplitter und Gewehrkugeln denn Farida ging einkaufen (solange es noch und sobald es wieder etwas gab) und Tarik arbeitete fast jeden Tag in der nah gelegenen Praxis eines Kollegen sie gingen zwischen brennenden Ölgräben MG-Nestern und Stacheldrahtwällen der Soldaten und Fedajin hindurch als seien diese nur aufgeblasene wichtigtuerische Spielzeugfiguren (was waren sie mehr niemand konnte es fassen wie schnell dieser ganze ungeheuerliche Apparat zerfiel der jahrzehntelang wie eine Bleiplatte auf uns gelegen und das Blut aus unserem Körper gepresst hatte)
nach drei Wochen
waren wir so fahrig und verrückt wie das Staatsfernsehen in den Wiederholungsschleifen der Bombennächte die immergleichen Geschichten meiner Cousinen Miral und Sara mit denen ich ein Zimmer teilte drückten mich nieder die Sendeausfälle betrafen unser Gehirn ich redete manchmal ohne es zu bemerken wir kramten das Fitness-Video eines amerikanischen Super-Modells aus das in Manhattan aufgenommen worden war einige Sequenzen spielten vor einem roten Wassertank auf dem Dach und man sah all die Hochhäuser in ihrer maßlosen Staffelung und dazwischen immer wieder die beiden noch unversehrten Türme des World Trade Centers wir drei knapp zwanzigjährige Frauen versuchten in dem engen Zimmer dessen Tür wir verrammelten wenigstens einige der platzsparenderen Übungen nachzumachen um nicht vollkommen steif und ungelenk
zu Tode gebombt zu werden aber (sie hatten es nicht auf uns abgesehen) es geschah
uns nichts wir hörten nur
von Verletzten von Bekannten die jemanden verloren hatten der Verlust dachte ich
wenn ich von Detonationen erschüttert die Hände auf die Ohren gepresst zwischen meinen Cousinen lag
war nur etwas an das man sich wieder gewöhnen musste ich dachte man
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