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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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wieder
    verbirgt
    im Stammhaus unserer Familie
    in dem alles begonnen hat mit Jasmins Hochzeit mit ihrem feigen Bräutigam Kasim und dem Major ich wollte nicht mehr unter dem Bett liegen und erdrückt werden sondern
    obenauf
    mit Dir
    Geliebter aber ich versank ich jammerte presste mir die Fäuste auf die Ohren verbiss mich in meinen Fingerknöcheln krümmte mich vor Wut Angst Schmerz es gab kein Hinauffliegen mehr keine Fantasie eines Sich-in-die-Lüfte-Erhebens die stolze Dau des Königs wäre so schnell zerschossen und in Stücke gerissen worden in diesem wahnsinnigen Himmel über Bagdad unter dem wir leben mussten schwarz vom angezündeten Öl rot vom Wüstensand heftiger Stürme grell silbrig blitzend am hellen blauen Morgen ein heulender und krachender Deckel unter dem wir schmorten eine drückende Grabplatte Nächte in düsterem Violett erstickt an Teerfarbe durch die sich feurige Risse zogen bis in unsere verkrampften Eingeweide
    wir hatten es uns nicht vorstellen können
    damals (vor mehr als eineinhalb Jahren) als wir uns auf den Dächern der alten Häuser in der Sonne gegenübersaßen
    und auch nicht als wir uns in der Schule voneinander verabschiedeten über ein Drittel der Klasse war schon gar nicht mehr erschienen von etlichen hieß es sie seien mit ihren Eltern und Geschwistern in den Norden oder gleich nach Syrien oder Jordanien geflohen ich konnte Eren nur noch schreiben und Huda umarmte mich ein letztes Mal heftig traurig und wütend es war einfach so dass wir überhaupt nichts tun konnten außer uns
    in die Freiheit bomben zu lassen
    es wird gut ausgehen flüsterte mir Huda zu deine Schwester
    ist ja auch zurückgekommen
    was für ein Trost
    ein schwarzer zerrupfter Vogel zitternd und stumm
    es war im Zuge einer dieser großartigen Amnestien unseres PRÄSIDENTEN gewesen (seiner letzten wohl) er entließ Mörder Betrüger Diebe und vollkommen Unschuldige in Bausch und Bogen
     
    Der Vater des Volkes
     
    Der Vater des Volkes
    tritt zur Tür herein.
    Er schenkt dir einen neuen Kühlschrank.
    Er zerschneidet die Handgelenke deiner Mutter.
    Er bringt deinen neuen Fernseher
    und Strom,
    den er an den Kopf deines Bruders schließt.
    Heute ist Feiertag.
    Man wirft Spezialitäten in heißes Fett.
    Singe für ihn!
     
    Tarik zeigte mir vor einigen Tagen erst dieses Gedicht er und Onkel Munir waren losgegangen um Jasmin zu holen das Gefängnis war schon fast leer nur einige Angehörige und verwahrloste Gefangene irrten noch umher auf dem Boden einer Zelle schließlich fanden sie
    Jasmin wie
    zertreten
    sie schwieg in ihrem kleinen Zimmer neben dem meiner Eltern in Wasiriya sie wurde von zwei Fachärzten besucht (Freunde meines Vaters) sie schwieg meine Mutter reinigte ihre Wunden ihre Füße waren fast durchbohrt die Arme und Hüften verbrannt sie schwieg und blieb in sich versunken obwohl sie klaglos alle Medikamente nahm die mein Vater für sie auftreiben konnte manchmal
    setzte ich mich neben sie auf den Fußboden auf dem sie kauerte sie schien es gern zu mögen wenn ich so nah saß dass ich sie gerade nicht berührte meine stolze Schwester verkrümmt und abgemagert sie streichelte einmal mein Gesicht auf eine ungeschickte kindliche Art bald brachte ich es nicht mehr fertig sie anzusprechen und sie erschrecken zu sehen es war besser ebenfalls zu schweigen und schweigend kam es mir mitunter so vor als hörten wir die gleiche Stimme oder die gleiche Musik oder als wäre es auch schon gut
    so
    in einem lichten Zimmer auf einem sauberen Teppich in einem stillen Winkel
    zu sitzen und mit dem Oberkörper schrecklich kindliche Wiegebewegungen auszuführen für lange Stunden ich fragte mich ob sie fassungslos ihre eigene Vergangenheit sah sich selbst als stolzen Falken als gefeierte Braut als Wissenschaftlerin im Labor als von ihrem farblosen Ehemann gelangweilte Frau die sich im verrückten Überschwang einen gefährlichen Liebhaber aus der Armee nimmt
    jede Explosion jede heranheulende Rakete jeder Einschlag der die Mauern des Viertels erbeben ließ brachte uns dem Tag näher an dem wir uns rächen konnten der Major würde bald nichts weiter sein als ein gewöhnlicher Zivilist
    meinte Sami eine Kalaschnikow koste 20 oder 30 Dollar in Saddam-City und er würde bald eine kaufen lasst uns
    in Frieden
    sagte (wie ich fest glaube) meine Schwester
    ohne ein Wort es genügt
    verschont zu sein und das Leben schmerzlos
    verstreichen zu lassen
    nichts ist wunderbarer als die Blume
    die im Feuer überlebt
    langsam konnte

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