September. Fata Morgana
mich im Fernsehen zwischen diesen Trümmern hier
eine der letzten transparenten Schichten die mich vom Chaos und der vollständigen inneren Niederlage trennen ist die
Aktivität
denn ich habe niemals einfach nur zugesehen sondern versucht zu heilen wenn es auch oft den Anschein hatte ich würde die Beteiligten gerade so weit wiederherstellen dass sie sich in die nächste Schlacht stürzen konnten jetzt
werde ich ganz nach Wasiriya ziehen und dort drei Tage als der halbe Arzt der ich gerade noch sein möchte drei Mal in der Woche die Praxis eines ebenfalls alternden und ausgelaugten Kollegen führen so dass mir daneben Zeit bleibt weiter
zu zählen
und mich endlich mehr um meine Familie zu kümmern die ich kaum noch anzusehen wage weil sie mich für ein arbeitssüchtiges Gespenst hält (dabei fliehe ich nur) in einem verbogenen Rahmen zu meinen Füßen steckt das nur noch von Glasscherben wie von einem aufgesperrten Löwenrachen (durchsichtiges Tier) gehaltene Farbfoto aus dem Jahr 1990 das Farida und mich hinter unseren drei der Größe nach geordnetenKindern zeigt wobei der lachende fünfjährige Sami (als Mann) vor mir postiert wurde Muna seltsam düster wirkt und Jasmin in einem heute kaum vorstellbaren europäisch anmutenden Sommerkostüm mit dem heute ebenfalls nicht mehr vorstellbaren strahlenden Anschein von Unverletzlichkeit ihre Mutter schon überragt die mir als Anfangs-Vierzigerin genau wie jetzt auszusehen scheint (da ich sie hartnäckig so abgespeichert habe in meinem romantischen Bilder-Diwan selbst wenn ich neben ihr liege ändert das nicht viel) während der schwarzhaarige Schnurrbartträger zu ihrer Rechten mir
unbekannt oder entfallen ist ich erinnere mich tatsächlich nicht
für dieses Foto Modell gestanden zu haben obwohl wir in einem regelrechten Studio gewesen sein müssen bestimmt wollten wir damals vor Jasmins Abreise nach Paris eine unzerstörbare Erinnerung ein Seifenblasen-Monument erstellen das noch bis zu unseren Enkeln durch die Zeit schweben könnte wenn es keine Nadel träfe keine Flamme kein glühendes Eisen
weshalb erinnere ich mich nicht? stopften sie mich aus oder trieben sie einen Doppelgänger auf wie den engagierten selbstlosen Typen den sie in Tikrit in ein Erdloch steckten während ER noch auf die günstige Gelegenheit wartet es uns allen heimzuzahlen (ich kenne mindestens ein halbes Dutzend Patienten die das glauben)
vielleicht hätte mein Familien-Doppelgänger (der Alter-Tarik) besser den Kontakt zu meinem einzigen Sohn gehalten der mir zu wirr zu versponnen zu labil zu sein scheint während der letzten Diktatur-Jahre habe ich mich darauf verlassen dass er in der Schule oder Nachbarschaft keine einzige falsche Bemerkung macht und nun erklärt er mir plötzlich dass in den Massengräbern im Süden die man jetzt vor laufenden Kameras öffnet nicht die von Saddam Ermordeten lägen sondern die heimlich verscharrten Opfer der ersten amerikanischen Invasion
wenn er auf der Mattscheibe sieht wie ein Sportplatz bei Falludscha in ein Massengrab verwandelt werden muss kann man sich die Anfälligkeit für solche Gedanken erklären ich werde jetzt viel mehr mit ihm reden ich kann ihn nicht einfach dem Internet und seinen zweifelhaften Freunden überlassen
noch habe ich weder ihm noch Muna gesagt dass wir in dieser Woche schon zurück nach Wasiriya gehen werden
aus Sicherheitsgründen und
endgültig wollte ich fast zu mir sagen das scheinbar Endgültige verdankt sich dem Anblick meiner zerfetzten Ordner herausgerissenen Schubladen ausgeleerten Medikamentenschachteln
sieben Jahre lang habe ich hier praktiziert eine zu kurze Zeit um wirklich sentimental zu werden vor vierzehn Tagen schon habe ich das Schild mit der Nachricht angebracht dass ich die Praxis schließen werde (auf der Innenseite der mit drei Schlössern gesicherten Tür Ali Baba las offenbar durch das Holz hindurch die Spiegelschrift) aber noch heute kommen den ganzen Morgen über und auch am Nachmittag unverbesserliche Patienten und so
sortiere ich die am Boden liegenden Dokumente behandle noch ein paar Wehwehchen schicke die ernsthaften Fälle zu Kollegen lasse mich beschimpfen beweinen und beschenken und kann dann endlich meinen großen Bruder Munir anrufen um ihm zu sagen dass Muna Sami und ich schon morgen oder übermorgen wieder ins Stammeszelt zurückkehren werden
es demütigt und rührt mich
wie sehr er sich freut mich wieder unter seine Fittiche zu bekommen fast fehlte es noch dass sie mich erneut
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