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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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allein dass ich immer nur zu müde gewesen sei
    während ich hätte sagen müssen: zu müde und nach wie vor zu sehr in meine eigene Frau verliebt als dass ich hätte beginnen können mich mit der Rangfolge der drei anderen zulässigen Eheweiber zu beschäftigen wenn man mich fragte
    was für mich der unheimlichste Augenblick des Krieges gewesen sei dann würde ich nicht zögern zu sagen jener Nachmittag im vergangenen April als mich mein schreckensbleicher naiver Bruder Fuad im Haus der Familie empfing um mir mitzuteilen dass
    Farida Jasmin mitgenommen hatte um mit ihr
    zu Fuß nach Kerbela zu pilgern (drei Tage lang über 100 Kilometer)
    augenblicklich nahm ich ein Taxi und steckte fast ebenso augenblicklich in einer Demonstration von Muqtada-as-Sadr-Anhängern fest den der amerikanische Ersatzkönig hierzulande gerade für vogelfrei erklärt hatte so dass sie den Muharram mit Tänzen und dem Winken von selbstgebastelten Sprengstoff-Attrappen feierten (einige davon echt) und Lobpreisungen der USA von sich gaben
    wir patrouillierten entlang des Pilgerzugs der sich am Rand der Ausfallstraßen gebildet hatte Kolonnen von Fahnenschwenkern singende Frömmler-Rudel Enthusiastische auf Krücken Barfüßige mit weißen Büßerhemden verzückt tanzende Frauen in Abayas an denen Pickups Humvees Kieslaster Panzer und die üblichen verbeulten staubigen Kamele des kleinen Mannes ohne nennenswerten Abstand vorbeidonnerten
    nach zwei Stunden schließlich musste ich dem Taxifahrer meinen letzten Dinar geben und sah mich gezwungen mitzupilgern in der Abendsonne
    kurz vor einem Rastplatz zeigten sich einzelne Soldaten der wieder im Aufbau befindlichen irakischen Armee und verteilten Wasserflaschen ich geriet unter eine Mannschaft von Hobby-Flagellanten in schwarzen Kutten mit grünen Stirnbändern die sich rhythmisch die Schulterblätter traktierten mich aber dankenswerterweise verschonten vor Zeltplanen und Jahrmarktsständen drängten sich Dutzende um Brot oder Devotionalien zu erhaschen einige nicht kenntlich verkleidete Wächter mit Kalaschnikows standen umher dann mischten sich auch amerikanische Soldaten unters Volk in voller Kampfmontur mit nach unten gerichteten Gewehren und nach oben hin wackelnden langen Antennen am Tornister und endlich
    vor einer Pilger-Feldküche an der die Anwohner der Sitte gemäß kostenlos Reis und Eintopf an die Wandernden ausgaben
    traf ich meine schöne magere in eine Abaya gesteckte Tochter die mich ängstlich aber sehr freudig ansah seltsam gelöst auch erschrocken und befreit ich wusste es nicht zu deuten und
    Farida
    stand hinter ihr mit zwei Blechtellern in der Hand ebenfalls in Schwarz und ebenfalls so
    inspiriert
    und staubig beseelt oder gelöst es waren wohl mir unzugängliche Nebenwirkungen ihrer Passions-Sportart was
    hatte ich sagen wollen? ich reihte mich neben ihr in die Schlange ein erschöpft dankbar wütend was noch und was hatte ich doch gleich sagen wollen
    ach ja: bist Du wahnsinnig geworden was fällt Dir ein unsere kranke geschundene Tochter hierher zu bringen und zu einem dreitägigen Fußmarschzu zwingen hast Du die Fernsehbilder von den Attentaten im März vergessen willst Du in Kerbela ins Paradies vorstoßen oder Dich dort auspeitschen oder Dir mit einem Fleischermesser oder Krummsäbel die Kopfschwarte aufhacken während daneben die Kinder und Passionstouristen ihr Eis lecken
    4000 Engel weinten Tag und Nacht an Husseins Grab über seinem abgetrennten Kopf über seinem Blut das aus 34 Schwert- und 33 Pfeilwunden strömte hättest Du
    sagen können aber Du siehst mich nur an und
    wir stehen wieder am Fluss wie vor dem Krieg ich hasse diese Wundenseligkeit dieses unnötige Blut (überall im Land fehlen Konserven) diesen Märtyrer-Kult ich bin Arzt ich sehe allenfalls die Engelstränen ein grauer feiner Regen durch den die Pilger strömen und die Panzer rollen in dem die Feuer unter den Eintopfkesseln flackern und in dem Dein Gesicht verschwimmt als könnte es tatsächlich auf immer von mir weggerissen werden
    nur hier
    können wir geheilt werden hast Du gesagt ich hatte es nicht vergessen es ist Dein Land und vielleicht hast Du recht mit allem auch mit Kerbela und auch damit dass man den Schmerz womöglich besser alleine ertragen kann ich sagte also nur dass ich
    hoffen würde dass wir uns in vier oder fünf Tagen zuhause wiedersähen
    dann ging ich zu Fuß nach Wasiriya gegen Mitternacht erschien mir am Straßenrand ein US-Panzer groß wie ein Haus man soll in so einem

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