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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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spiegelnden flackernden Reklameflächen vorbei die sich schwindelerregend perspektivisch verjüngten an Lichttürmen ohne Grund
     
    Fragment
     
    Ach, die Flamme, die ich werde,
    ist ein Flügel nur zu Dir.
    Ich bin lieber Luft als Erde.
    Im Feuerbild erscheinst Du mir.
     
    an diese Verse in Sabrinas schwungvoller runder Handschrift dachte ich als ich mitten in der Nacht erwachte weil es nach meiner inneren europäischen Uhr bereits Vormittag war ich hatte schon im Schlaf das Gedicht aufsagen wollen aber immer irgendeinen Fehler gemacht so dass ich jetzt aufstand um im schwarzen Notizbuch nachzuschauen
    Seymour saß auf seiner (neutralen) Ledercouch im Wohnzimmer vor einem großen Fernsehschirm eine Tasse Tee in der Hand wir trugen beide ein T-Shirt und eine gestreifte Shorts und mussten lachen was ist schon originell an unserem Geschlecht ich nahm den gleichen Kräutertee und wir sahen wie zwei Jungen die sich nachts zu einem Streich verabredet haben einen Gespensterfilm
    aus Afghanistan
    das es immer noch gab in dem noch immer unübersichtliche zähe Kämpfe stattfanden in dem deutsche und amerikanische Soldaten fielen es schien ein nicht enden wollender grausiger Zirkus von Attentaten Gefechten und politischen Manövern zu sein in dem sich internationale Armeen und Hilfsorganisationen Diplomaten Stammesfürsten Banditen und Terroristen hoffnungslos auf dem Rücken der Bevölkerung verkeilt hatten
    auf dem Bildschirm
    sahen wir einen fast achtzigjährigen Mann und ein kleines Mädchen seine Enkelin wie es hieß sie wohnten in nichts als Stein und Staub sie hatten keine Wasserleitung in ihrem hoch gelegenen Dorf und das ganze (restliche) Leben des altes Mannes bestand darin dreimal am Tag dreihundert Meter hinabzusteigen und wieder hinauf beladen mit zwei Wasserkanistern und das Mädchen trug zwei zusammengebundene Plastikflaschen der Mann
    nahm Opium kaute es irgendwie
    um das alles nicht zu spüren sagte er Opium und meine Enkelin die mich immer begleitet das siebenjährige Kind sie sind das Glück das ich brauche um nichts zu spüren
    aufsteigen
    hinabsteigen
    aufsteigen dein schwitzender
    aus den Opiumnebeln lächelnder Großvater mit der Hakennase dem verrunzelten gegerbten Gesicht unter dem grauen Turban ausweglos endlos im Staub in der Hitze im Schweiß des Aufstiegs des Abstiegs und ich
    dachte nur (eifersüchtig verrückt) sie
    sind wenigstens zusammen
    dann schämte ich mich für einen solchen Gedanken in Seymours Midtown-Wohnung im unermesslichen Reichtum des
    TURMS
    nur sehr entfernt und gedämpft drang der nächtliche Verkehrslärm herauf wie die Lebenszeichen einer versunkenen Stadt nach dem Afghanistan-Film kam ein Bericht über Naturreservate in Florida und wir gingen ohne mehr als zwei Sätze zu wechseln wieder zu Bett
    zum Frühstück nahmen wir beide nur einen Toast und schwarzenKaffee irgendetwas Wichtiges und sehr Tröstliches schien Seymour mir am Vorabend über Luisa gesagt zu haben aber ich kam nicht darauf was und wollte ihn am Morgen auch nicht danach fragen wir saßen uns frisch geduscht und rasiert gegenüber und wurden uns unaufhaltsam fremd bis Seymour auf Berlin zu sprechen kam wo er schon lange nicht mehr gewesen sei falls Bush die Wahlen gewinne könnten wir beide dort ins Exil gehen das sei doch eine verblüffende Wendung der Geschichte
    das Unfassbare (sagte ich mit einem jähen Schweißausbruch aber ich musste es sagen) ist die Fähigkeit dieser politischen Figuren ganz persönlich die Verantwortung für den Tod von Zehntausenden oder Hunderttausenden zu tragen niemand wird das je von ihnen nehmen noch nicht einmal die grauenvolle Amnesie der Geschichte auf die sie vielleicht hoffen
    sie fassen es eben nicht meinte Seymour achselzuckend das ist ihr ganzes Geheimnis
    ein opakes Geheimnis die Mitleidlosigkeit eines Granitfelsens ich komme nicht an diese wahnsinnig machende Unerbittlichkeit diese Glaubensstärke diesen Befreiungseifer oder was immer es ist heran liegt das nur an unserer angeekelten romantischen Sichtweise sollten wir besser den Naturforscherblick Goethes lernen auf den eitlen kleinwüchsigen massenmörderischen Kaiser den er für eine unvermeidliche Katastrophe hielt und hinnahm wie ein Muslim den göttlichen Willen aber natürlich haben wir diesen Blick schon längst wie sollten wir sonst hier leben (denke doch nur an die Theorie des Turms die du selbst aufgebracht hast)
    was hatte mir Seymour über Luisa gesagt? ich wäre noch vor unserem Abschied darauf

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