Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
Vom Netzwerk:
vorherrschende Attribut der Nation während diese fünf Toten hier untergehen wie Ereignisse einer Ballsportart die entschieden weniger wichtig zu sein scheint als Baseball das hatte ich Seymour vergessen zu sagen (oder er mir) dieses Untergehendas Marginale und Entfernte des Kriegs war und ist seine unabdingbare Voraussetzung die brutale mathematische Relation von UNSEREN Toten zu UNSERER Bevölkerungszahl insgesamt unter dem die Bedrohung für die eigene Familie noch weiter eindämmenden Umstand dass es eine Pflichtarmee ist die hier zum Einsatz kommt unter den bislang über tausend Gefallenen der US-Army sollen mittlerweile zwanzig oder dreißig weibliche Soldaten sein in einem ihnen unverständlichen feindseligen Land dessen Sprache man nicht spricht dessen Kultur man nicht versteht dessen Hass und Verzweiflung man durch sein Unverständnis nur noch weiter provoziert
    Goethes Frauen
    ich stelle mir vor ich müsste ihnen ein solches weibliches Schicksal erklären die Fahrt in einer moosfarben gefleckten Uniform in einem Humvee auf einer Wüstenpiste bei fünfundvierzig Grad Celsius in der Nähe von Tikrit du bist sechsundzwanzig Jahre alt hast zwei Kinder in Philadelphia denen du gestern über eine sichere Verbindung eine E-Mail und ein Digitalfoto schicken durftest am Straßenrand siehst du ein schwarzes Bündel ein Schaf nein ein toter Hund der eine Sekunde später explodiert
    Bettine hätte es vielleicht am wenigsten gewundert denke ich
    in ihrer Überspanntheit
    und mit einem Mal fällt mit Seymours Botschaft ein oder wird mir klar denn sie war ja nicht ausgesprochen ich musste erst den Blick von Bettine oder Friederike auf den Boston Logan International Airport zu richten versuchen einen Flughafen den man ohne motorisiertes Fahrzeug gar nicht mehr erreichen kann weil nur noch mehrspurige Straßenschleifen in sein Inneres und zu den Terminals führen
    sei froh dass sie am Leben ist
    mehr brauchte mir sein Blick doch gar nicht zu bedeuten ich habe mich umsonst bemüht allein eine Lösung zu finden ob ich bleiben oder nach Berlin oder Tel Aviv gehen soll das muss ich gar nicht für mich ausmachen wenn Luisa mir noch eine Chance gibt
    um langsamer und sehender (andächtiger) anzukommen nehme ich die Fähre zur Rowes Wharf mit der ich zum letzten Mal im Sommer 2000 gemeinsam mit Sabrina gefahren bin als wir zusammen zurückkehrten ich von meinen Studien in Frankfurt und Weimar sie von ihrer Europareise
    durch das von Tropfen besprühte und von Reflexen übersprühte Glas der Fährkabine verwischt und übersteigert sich der Anblick der Waterfront so dass das wochenlang an die europäischen Eng- und Kleinmaße adaptierte Auge sich auf die Steinriffe Manhattans zuzubewegen wähnt
    weißt du ich kann hier schon leben sagt Sabrina von der italienischen Sonne gebräunt draußen an der Reling ihren schwer bepackten Rucksack mit den Knien gegen die weißen Metallstäbe pressend
    weshalb nicht denke ich ergeben und optimistisch zugleich sie würde hier studieren und sich auch am MIT behaupten die Reise mir ihrer Cousine hatte ihr mehr Selbstbewusstsein und Unternehmungsgeist verliehen sie wird es schaffen ich sehe über das Wasser und versuche möglichst viel von der Zuversicht und kühlen Vitalität des Financial District in mich aufzunehmen von der Business-Energie und Dynamik der Stadt (der Bürgermeister und der größte Gangster können schon mal leibliche Brüder sein) Boston ist überschaubar es hat eine gediegene Modernität nichts Überwältigendes
    Sabrina erzählte und ich hätte zuhören sollen
    der ruhige Wasserspiegel der Hafeneinfahrt fließt zinnfarben träge und gelassen zum Torbogen an der Rowes Wharf hinter der einzelne hohe Gebäude emporragen eng gestellt und vage zusammenhängend
    wie Burgtürme oder eher noch wie die Felsen der
    Toteninsel
    es ist für einen Augenblick
    eine so zwingende visuelle Überblendung der Hafeneinfahrt mit Böcklins Gemälde dass ich um meinen Verstand fürchte ich hätte nicht von Hitler und Berchtesgaden erzählen sollen es verdarb ihr die Faszination an dem Bild Sabrina vergisst nichts sie sucht und archiviert Details
    der kleine golden gewandete Mohr und sein schwarzer Tanzbär auf einer Plakette in einer hölzernen Standuhr im Frankfurter Goethe-Haus
    oder jene
    winged skulls die geflügelten Totenschädel die man in den Scheitelpunkt der Grabsteine auf dem hiesigen Friedhof Copp’s Hill einmeißelte als Goethe nach Frankreich fuhr (Sabrina erinnerte sich in Boston

Weitere Kostenlose Bücher