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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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strahlenden sportiven aber doch wohl zu massigen Mittfünfziger mit Herzproblemen einen schlankeren und ziemlich nachdenklichen Sechzigjährigen mit gut gewarteten Bypässen herausschälte war ja zu begrüßen – angenehm – erleichternd – was magst du ihn so er hat dir deine Frau weggenommen! wollte etwas in mir ausrufen aber es war nur ein Schatten aus einem anderen Leben der sich aus dem
    Rückblick
    ergab oder aus einer Art Eingeholt-Werden denn tatsächlich schien sich alles zu wiederholen der Vietnamkrieg (zumindest in einigen wichtigen Aspekten) eine Beziehungskrise (dieses Mal wenigstens ohne Kind) ich hatte ein Jetlag in meinem Leben würde ich nur wieder trinken dann könnte ich vielleicht mit Genuss in diese Spirale hineinfallen –
    Lusia hat gewiss ihre eigene Meinung zu Bush und zu Mrs Rice meinte Seymour
    sie nennt sie Dr Jekyll und Mr Hyde
    Mr Hyde als das demokratische Böse ich sehe schon sie legt es auf die Bewusstseinsspaltung an Seymour war halb amüsiert ich denke Bush kann wirklich abschalten er weiß nicht was er anrichtet oder er schafft es irgendwie das nicht wissen zu wollen das unterscheidet ihn von Napoleon der das zynisch in Kauf genommen und damit geprahlt hat
    vielleicht erreicht er noch ähnliche Dimensionen was die Zahl der Kriegsopfer anlangt die Grande Armée bestand aus 600 000 Mann und davon kehrten 100 000 aus Russland zurück in drei oder vier Jahren –
    nein keineswegs sagte Seymour erschrocken so lange werden wir dort nicht sein
    weshalb aber (fragte er bald darauf als wir im Restaurant seiner Wahl saßen einer angenehm kühlen Höhle ausstaffiert mit roten LederpolsternDamasttischdecken Silbermessern und Kristallgläsern) halten wir so still? weshalb gibt es keine Demonstrationen keine Studentenproteste im großen Stil keine wütenden Artikel-Serien dass du (er sah mich etwas mitleidig an) als Deutscher (ein Jetlag-Volk) eine Art
    Beißhemmung
    hast (der Holocaust der Zweite Weltkrieg die Befreiung vom Faschismus) kann ich verstehen aber was habe ich weshalb fühle ich mich nur deprimiert und gelähmt
    weil deine Eltern aus Rotterdam gerade noch rechtzeitig in die USA fliehen konnten hätte ich hier einwenden sollen aber ich sagte wir seien deprimiert weil wir nichts tun könnten und erzählte ihm dann dass ich überlegte nach Tel Aviv zu gehen da ich ein Angebot für eine Gastprofessur erhalten hatte
    ohne Luisa? und nur wenn Bush noch einmal die Wahlen gewinnt? oder weil die Israelis die wahren Kriegsgegner sind? was soll denn das? Seymour schüttelte den Kopf und setzte mir das Stethoskop auf die Brust: ich denke du willst alles durcheinanderbringen um bessere Gründe dafür zu haben dass du so durcheinander bist
    blöder Ölbohrer! dachte ich um ihm dann unnötigerweise zu versichern dass es ebenso ein anderes Israel gäbe wie ein anderes Amerika ich bestellte ein alkoholfreies Bier (im Kristallglas) und versuchte mich zu entspannen weil ich selbst in meiner Jetlag-Eintrübung bemerken musste dass Seymour der einzige Mensch war mit dem ich noch ausführliche politische Dispute hatte und das sogar gerne (während ich mich meinen Studenten gegenüber innerlich wand und sehr gefiltert und kontrolliert sprach) und dass er auch der Einzige war mit dem ich über Luisa redete auch wenn ich ihm kaum etwas sagte Tel Aviv um meine Verwirrung noch zu steigern natürlich war es das während ich geglaubt hatte ich ginge damit näher an den Konflikt heran um klarer sehen zu können
    wir denken oder
    werden zu denken angehalten
    dass (das Bier erschien und ich versuchte den Schaum in meinem übermüdeten Kopf wegzublasen) wir ohnehin nichts mehr ändern können wir haben paralysiert dem Angriff zugesehen weil wir was auch immer wir glaubten oder nicht glaubten dachten dass wir ihn ohnehin nicht würden verhindern können und weil wir für das massenmörderischeSaddam-Regime keinen Finger rühren wollten und jetzt denken wir wiederum (oder werden wiederum zu denken angehalten) dass es
    ohnehin keine Wahl mehr gibt ergänzte Seymour der sich Mineralwasser und ein Glas Rotwein (gesund fürs Herz?) bestellt hatte weil wir nun einmal dort sind und dafür Sorge tragen müssen dass der Bürgerkrieg nicht ausbricht und das Land den Übergang zur Demokratie schafft
    wobei wir von den Irakern erwarten dass sie mit kaum etwas anderem vor Augen als Krieg Okkupation Gewalt und Chaos sich vor den Wahllokalen als Zielscheibe anstellen
    es ist nicht leicht sagte Seymour so eine Transformation

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