SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
dir nur vorgestellt, wie Lee
aussah, als er dir noch hier im Haus begegnete«, fuhr sie leise fort. Ihre
brüchige Stimme war kaum zu verstehen.
»Geister steigen nicht durchs Fenster«, knurrte Chan Tsu. Mit
kantigem Gesicht starrte er hinaus in den düsteren Garten.
Die vielköpfige Familie der Tsus lebte im Vergleich zu vielen
anderen Chinesen am Rand von Hongkong verhältnismäßig gut und fortschrittlich.
Die insgesamt sechs Räume des kleinen, einstöckigen Hauses beherbergten elf
Familienmitglieder, einschließlich der Familie des Bruders von Chan Tsu. In
jedem Raum lebten so nicht mehr als zwei Menschen. Das war fast luxuriös, wenn man
bedachte, daß in anderen Wohnungen acht, zehn oder gar zwölf Personen ein
einziges Zimmer teilten und in diesem Raum auch noch gekocht wurde.
Noch schlimmer waren die Zustände auf den Sampans, den kleinen
Booten in der Hafenbucht von Hongkong, wo auf engstem Raum Dutzende von
Menschen und Haustieren zusammenlebten. Auf den Booten wurden sie geboren, auf
den Booten starben sie und die meisten hatten ihr ganzes Leben lang nicht ein
einziges Mal das Festland betreten.
»Es war Lees Art, immer durch das Fenster zu steigen, wenn er spät
nach Hause kam .« Mi Tsu hatte sich wieder gefaßt. Sie
wirkte zwar noch sehr blaß, aber ihre Stimme klang fester und sicherer.
»Das Fenster war nicht richtig verschlossen«, entgegnete ihr
Vater. »Ich streite nicht ab, daß jemand hier eingestiegen ist. Vielleicht ein
Landstreicher, der Hunger und Durst hatte .«
»Nein, Vater. Es war Lee. Er stand mir im Flur gegenüber«, ließ Mi
Tsu sich nicht beirren.
Gemeinsam verließen sie schließlich das Haus und suchten die
nähere Umgebung ab, weil Mi darauf bestand.
Aber sie stießen auf keine Spur, die die Aussagen der
fünfundzwanzigjährigen Chinesin bestätigt hätten.
Unverrichteterdinge kehrten sie ins Haus zurück. Chan Tsus Frau
machte ihrer Tochter Vorwürfe, daß sie in der letzten Zeit ein so
ausschweifendes Leben führte. Mit dem Tod Lee Tsus, des Bruders von Mi, hatte
alles begonnen. Aber dadurch, daß man Nacht für Nacht immer später nach Hause
käme, würde sich nichts im Leben ändern.
»Du hast Lee sehr gemocht«, sagte ihre Mutter und legte den Arm um
sie. »Ihr beide seid altersmäßig nur ein Jahr auseinander. Ihr seid gemeinsam
groß geworden. Das hat euch geformt und aneinander gewöhnt. Als Lee vor drei
Jahren an seiner schweren Krankheit starb, war er gerade dreiundzwanzig. Damit
eigentlich fängt normalerweise das Leben eines Menschen erst an. In der ersten
Zeit nach seinem Tod bist du nachts des öfteren aufgewacht und hast geschrien.
Erinnerst du dich nicht daran ?«
Die junge Chinesin nickte. »Doch. Wie könnte ich das vergessen!
Aber ich glaube, ich bin dann doch darüber hinweggekommen. Seit über einem Jahr
muß ich nicht mehr so oft an ihn denken wie unmittelbar nach seinem Tod. Ich
habe Lee nicht vergessen - haltet mich nicht für herzlos! Ich habe nur
begonnen, mein Leben mit anderen Augen zu betrachten. Die Toten soll man ehren
und in Erinnerung behalten. Aber dies darf nicht so weit gehen, daß sie unser
Leben diktieren .«
Chan Tsu murmelte Zustimmung. Er war ganz Mis Meinung.
Frau Tsu begleitete ihre Tochter ins Schlafzimmer, wo noch eine
jüngere Schwester lag und sich schlafend stellte, als Mi eintrat.
»Wir werden uns morgen noch mal über alles unterhalten«, lächelte
die Mutter. »Morgen sieht die Welt ganz anders aus. Und mir wäre es lieb, wenn
du nicht mehr so oft in jenen Lokalen verkehren würdest, wo andere dich zu
übermäßigem Trinken animieren. Keinem von uns, Mi, ist entgangen, daß du nach
Alkohol riechst .«
Mi Tsu unterließ es, sich weiter zu verteidigen. Sie wußte, daß
der Vorgang, von dem sie ihrer Familie gegenüber gesprochen hatte, sich so
phantastisch und unglaubwürdig anhörte, daß sie nicht damit rechnen konnte,
ernstgenommen zu werden.
Chan Tsu stand an der weit geöffneten Haustür, rauchte eine
Zigarette und starrte hinaus in die sternenübersäte Nacht. »Bringe meine Mutter
nach oben«, sprach er seine Frau an. »Und dann möchte ich dich noch mal
sprechen. Es geht um Lee .«
Die alte Frau mit dem grauen Haar winkte ab und gab ihrer
Schwiegertochter zu verstehen, daß sie ruhig mit Chan sprechen könne. »Ich
komme schon allein nach oben. Schließlich bin ich auch allein
heruntergekommen«, sagte sie mürrisch.
Als Chan Tsus Mutter außer Sichtweite war, sah Frau Tsu ihren Mann
verwirrt an. »Was
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