SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
verändert!
Der Kopf von Dr. X, jener rätselhaften Ärztin und Alchimistin,
deren wahren Namen niemand kannte, war nicht mehr von der schwarzen Maske
bedeckt. Locker und luftig türmte sich das dichte Haar über die Rundung des
Kopfes, und nur die obere Gesichtshälfte war wie mit einem dunklen Belag
bedeckt, der nur Schlitze für die Augen frei ließ.
Es schien, als wäre die seltsame Maske, der sie sich eine Zeitlang
bediente, eins geworden mit ihrer Haut, wäre mit ihr verschmolzen.
Dr. X stand da wie eine Statue. Ihr Blick war geradeaus gerichtet
auf den Toten, den sie in dieser Nacht zum zweiten Mal in sein Elternhaus
schickte.
Unaufhaltsam steuerte die lebende Leiche auf ihr Ziel zu.
Das Küchenfenster im Haus war klein, aber sehr niedrig. Das kam
ihrem Anliegen entgegen.
Doch das Fenster war nun nicht mehr wie vor einer Stunde nur
angelehnt. Es war von innen fest verschlossen.
Wütend schlug der unheimliche nächtliche Besucher mit der flachen
Hand einmal gegen den verwitterten Rahmen. Die Fensterscheiben zitterten.
Der lebende Tote aus dem Leichenhotel war nicht verwirrt und
zögerte auch keine Sekunde, das zu tun, was man von ihm erwartete.
Er bückte sich, griff nach einem faustgroßen Stein und klatschte
ihn dann gegen das kleine, quadratische Fenster in unmittelbarer Höhe des
Fenstergriffs.
Klirrend zersprangen die Scheiben.
Einige Sekunden folgte Totenstille.
Bis auf das monotone, gleichmäßige Rauschen des Regens lag kein
anderes Geräusch in der Luft.
Auch im Haus Chan Tsus war alles still.
Der von den Toten Zurückgekehrte griff durch das Loch in der
Fensterscheibe, ohne darauf zu achten, daß einige Splitter seine trockene,
gefühllose Haut ritzten.
Zwei, drei Scherben bohrten sich tief in Handgelenk und Unterarm,
öffneten die obere, rauhe Hautschicht, und eine schwarz-gelbe Flüssigkeit quoll
zähflüssig hervor. Sie lief an seinem Unterarm entlang, tropfte auf den
Fensterrahmen und die Fensterbank und hinterließ klebrige Flecke.
Mit einer einzigen Bewegung war der Fenstergriff nach oben
geschoben.
Im nächsten Moment ließen sich beide Flügel nach innen drücken,
und der Weg ins Haus war erneut frei.
Ohne auf seine Verletzung zu achten, kletterte die lebende Leiche
über die Fensterbank in die Küche.
Als wäre der Eindringling plötzlich von tausend Teufeln besessen,
fing er an, die Kücheneinrichtung zu zertrümmern.
Er riß ein Bord über dem Herd von der Wand, schleuderte Krüge und
Töpfe durch die Luft, riß einen Stuhl empor und zerschmetterte ihn in sinnloser
Wut auf der Tischplatte, deren lackierte Oberfläche dabei auch etwas abbekam.
Der Lärm, das Rumpeln, Poltern und Rumoren erfüllte das ganze
Haus.
Lee Tsu riß die Türen des Geschirrschrankes auf und zerschlug die
Porzellanteller, - tassen, -schüsseln und Gläser, so daß kaum noch ein Teil
erhalten blieb.
Dann warf er den Schrank um. Ohrenbetäubend hallte es durch das
nächtliche Haus.
Da gab es niemand mehr, der nicht durch die lauten Geräusche aus
tiefstem Schlaf geweckt worden wäre.
»Mi !« rief die siebzehnjährige Schwester
an Mi Tsus Seite. »Was ist denn das? Mein Gott - was geht denn hier vor? «
Das Mädchen sprang aus dem Bett und lief zitternd zur Tür, während
Mi Tsu sich verwirrt und mit wild pochendem Herzen aufrichtete.
Geräusche kamen aus den Zimmern der oberen Etage.
Die Dielen knarrten, Türen wurden aufgerissen. Man hörte Schritte.
Zuerst waren Mi und ihre Schwester auf dem Flur. Ihre Zimmer lagen
der Küche am nächsten.
Die geheimnisvolle Dr. X stand noch immer an ihrem Platz und
lauschte in die Nacht.
Die roten Lippen der Maskierten bewegten sich. »Komm zurück! Es
ist gut so. Es genügt... «
Es war unmöglich, daß sie aus dieser Entfernung sehen konnte, wie
sich die Dinge im einzelnen abspielten.
Doch das hinter den Fenstern angehende Licht zeigte ihr, daß die
Hausbewohner auf die Ereignisse aufmerksam geworden waren.
Ausgeschlossen war es auch, daß Lee Tsu die geflüsterten Worte aus
dem Mund der Frau hören konnte. Sie waren so gesprochen, daß eine Person direkt
neben Dr. X gerade noch die Stimme hätte hören können.
Und doch reagierte der lebende Tote darauf wie auf ein Signal.
Er machte auf dem Absatz kehrt, als die Küchentür vom Flur her
aufgerissen wurde.
Der Korridor war hell erleuchtet.
Auf der Schwelle zur Küche standen Mi Tsu und ihre jüngere
Schwester.
Die vor zwei Stunden Heimgekehrte, die in dieser Nacht schon mal
die Begegnung mit
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