Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
oder eine unerklärliche Unregelmäßigkeit von Wind und Echo. Sie blinzelte in die Dunkelheit … und beinahe glaubte sie sich selbst.
Lord Alexander. Sie erinnerte sich an seine dunklen, höchst ungewöhnlichen Augen und die Art, wie er sich so eindringlich auf sie konzentriert hatte. War er einer von ihnen? Von den Männern, die sie zu fürchten hatte? Ihre Fantasie spielte ihr einen Streich und verwandelte seine auffälligen blauen Augen in undurchdringliche bronzefarbene Bälle. Männer hatten keine glühenden bronzefarbenen Augen, ihr Geist schreckte vor der Idee des Übernatürlichen zurück. Ihr Vater mochte an all diesen Unsinn glauben, aber sie stand mit beiden Füßen fest auf dem Boden.
Jeder, der in der Welt archaischer Sprachen zu Hause war, wusste, dass ihr Vater zwei akkadische Schriftrollen besaß. Die Schriftrollen selbst waren natürlich nicht akkadisch, aber trotzdem uralt und exakte Kopien der akkadischen, keilschriftlichen Steintafeln, die vor langer Zeit zerstört oder zu Staub zerfallen waren. Sie selbst war zugegen gewesen, als ihr Vater sie in dem dunklen Wüstenzelt eines Nomaden vor achtzehn Monaten gekauft hatte. Den Schriftrollen hatten zwar die Stäbe an beiden Enden gefehlt, aber ansonsten waren sie bemerkenswert gut erhalten gewesen.
Am Ende der Expedition hatte sie getan, was sie üblicherweise immer tat. Sie hatte die Notizen ihres Vaters zusammengefasst und einen akademischen Bericht geschrieben, der den Erwerb der Schriftrollen nur am Rande erwähnte. Damals waren sie sich deren Echtheit noch nicht sicher gewesen. Sie hatte den Bericht unter dem Namen ihres Vaters bei der Königlichen Geografischen Gesellschaft eingereicht.
Doch mit der Veröffentlichung ihres Berichts war ihre Welt verrückt geworden.
Ihr gegenüber erstarrte Lord Trafford in seinem Sitz. Er drehte sich um, den Blick auf etwas am Straßenrand gerichtet. Dann steckte er seinen Gehstock aus dem offenen Fenster und klopfte gegen das Dach der Kutsche. Der Fahrer rief den Pferden einen Befehl zu, und die Kutsche wurde langsamer und blieb dann stehen.
Lucinda blinzelte. »Was ist los, Trafford?«
Evangeline fuhr hoch. Schläfrig murmelte sie: »Warum halten wir?«
Trafford duckte sich und öffnete die Tür. Ohne auf den Lakaien oder die Stufen zu warten, kletterte er aufs Gras hinunter, den Gehstock in der Hand.
»Ich dachte mir doch, dass Sie es sind«, lachte er, wobei er freundlich in die Dunkelheit sprach. »Probleme mit dem Pferd?«
Die Seitenlampen der Kutsche erhellten einen breiten Streifen aus Kies und Gras, übersät mit allerlei Unrat. Kutschen und Wagen rumpelten vorbei; die Straße, die nach London führte, war um diese Zeit genauso rege befahren wie während der Tagesstunden.
Eine Gestalt erschien aus dem Schatten, die obere Hälfte ihres Gesichts war von der Krempe des Zylinders verdeckt. Ein langer schwarzer Mantel reichte ihr bis zur Mitte der Wade und flatterte im Wind. Sie hielt Zügel in der Hand, und hinter ihr trottete ein dunkles, glänzendes Pferd. Der nicht identifizierte Herr presste die Lippen zu einem grimmigen Lächeln zusammen.
Minas Augen weiteten sich, und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie erkannte diese Lippen. Sie erkannte alles, angefangen von den maskulinen Umrissen seiner Schultern bis hin zu seiner mächtigen Körpergröße und seiner zuversichtlichen Haltung.
Lord Alexander nahm den Hut ab und klopfte sich damit ungeduldig auf die Oberschenkel, sodass eine kleine Wolke Straßenstaub aufstieg.
Lucinda sank in ihren Sitz zurück, die Schultern sehr gerade, das Gesicht ein bleicher Mond in der Dunkelheit. Ihre Töchter dagegen rutschten an die Fenster und versuchten, an Mina vorbeizuschauen, um eine bessere Sicht zu haben.
»In der Tat.« Lord Alexander hob ein Hufeisen hoch. »Ich habe im Gras gestöbert, bis ich es gefunden hatte. Haben Sie vielleicht Hufschmied-Werkzeug dabei, das ich mir borgen könnte?«
»Noch besser.« Lord Trafford deutete mit seinem Gehstock in Richtung Straße. »Wir haben einen Hufschmied dabei.«
Einen Moment später erreichte sie einer der beiden Diener, die zu Pferd gefolgt waren. Er saß ab und ließ sich das Hufeisen geben.
Lord Trafford fragte: »Warum fahren Sie nicht mit uns gemeinsam weiter? Mr McAllister wird Ihr Pferd mitbringen, sobald er den Huf neu beschlagen hat.«
Lord Alexander hob eine Hand. »Vielen Dank, Lord Trafford, aber ich vermute, Ihre Familie und insbesondere Ihre Nichte werden erschöpft sein
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