Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
du beschlossen, seinen Tod vorzutäuschen?«
Minas Augen umwölkten sich. »Von Bengalen aus haben wir unsere Expedition begonnen. Wir sind nach Tibet gereist, zu einem Tempel in der Nähe von Yangpoong am Fuß des Himalaja. Dort bat mein Vater um eine Audienz bei den Mönchen des Klosters.«
Mark unterbrach sie. »Was haben tibetische Mönche denn mit dem Ganzen zu tun? Die Schriftrollen stammten aus der alten Bibliothek in Alexandria. Sie sind Kopien akkadischer Tafeln. Das heißt, die Ursprungsorte liegen heute in Ägypten und Persien. Tibet ist davon weit entfernt.«
»Ich habe mir dieselbe Frage gestellt.« Mina legte die Hände auf die Knie. »Ich bin mit Vater zum Tempel gegangen, und er hat ihnen die Schriftrollen gezeigt.«
»Was ist dann passiert?«
»Nun …« Sie rutschte etwas nach vorn, sichtlich erregt bei der Erinnerung. »Zunächst einmal fingen sie sofort an, ihre Gongs zu schlagen. Wieder und wieder. Und dann gaben sie ihm die Stäbe der Schriftrollen.«
»Moment mal.« Mark blinzelte. »Stäbe der Schriftrollen?«
»Ja. Mein Vater hatte zwei Papyri. Zwei Schriftrollen, aber keine Stäbe. Sie haben ihm vier Elfenbeinstäbe gegeben, zwei für jede Schriftrolle.« Sie zog die Knie auf die Couch und schlang die Arme darum. »Und das, Mark, war der Moment, in dem der Ärger begann. Zurück im Lager, legte sich in unserer ersten Nacht schwerer Nebel über die Berge. Nebel ist in Tibet natürlich alltäglich, aber dieser Nebel flüsterte. Die Bengalis, die wir angeheuert hatten, um unsere Habe die Berge hinaufzutragen, gerieten in Panik.«
»Du brauchst mich nicht zu überzeugen«, versicherte Mark ihr. »Ich habe seltsamere Dinge gesehen, ich glaube dir.«
Mina berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen. »Am nächsten Morgen fanden wir den Leichnam eines unserer Bengalis am Fuß einer Schlucht. Unser englischer Führer, Leutnant Maskelyne, meinte, er müsse in der Dunkelheit von einem Felsvorsprung gestürzt sein, aber nach dem, was mein Vater mir erzählt hat, war der Körper des Mannes schwer verstümmelt. Zu schwer verstümmelt, als dass seine Verletzungen einfach von dem Sturz herrühren konnten. In der nächsten Nacht verschwand unser einheimischer Übersetzer. Ob er uns aus Furcht im Stich gelassen oder irgendein beunruhigenderes Schicksal erlitten hat, werden wir wohl niemals erfahren. In der nächsten Nacht verloren wir weitere Männer.«
»Und so hat dein Vater dich verlassen?«
Sie nickte. »Er erklärte mir, dass sie uns gefunden hätten. Dass er mein Leben nicht weiter riskieren würde und wir uns deshalb trennen müssten. Er befahl mir, nach England zurückzukehren und die Nachricht zu verbreiten, er sei auf dem Berg gestorben. Er sagte mir außerdem, dass ich – dass ich ihn nie wiedersehen würde.« Tränen sammelten sich in ihren Wimpern. »Anscheinend hatte er schon länger die Idee gehabt, sein Verschwinden durch solch eine Lüge zu verschleiern, denn er gab mir den Namen eines Mannes in Kalkutta, der alle nötigen gefälschten Dokumente bereitstellen würde.«
»Was ist dann geschehen?«, hakte Mark sanft nach.
»Ich habe mich geweigert. Ich war erregt. Ich bin aus dem Zelt gestürmt. Ich bin nicht weit gegangen. Überhaupt nicht weit. Aber eine Wolke bewegte sich auf den Berg zu.« Mina fröstelte. Mark ergriff ihre Hand und drückte sie. »Ich habe versucht, meine Spuren zum Lager zurückzuverfolgen, konnte aber nichts sehen als Nebel. Ich hatte Angst, dass ich in eine Felsspalte stürzen und wie dieser Mann enden könnte. Also saß ich da und wartete. Ich wartete stundenlang, fast bis zum Morgen. Endlich löste sich der Nebel auf, gerade weit genug, dass ich sehen konnte, dass ich mich direkt neben den Zelten befand. So nah. Ich hätte einige Schritte weiterkriechen und sie berühren können. Aber mein Vater war fort. Er und Leutnant Maskelyne waren fort.«
Jetzt verstand Mark das Durcheinander der Gefühle, die Mina für ihren Vater empfand, die Liebe und den Zorn.
»Und so habe ich meinen Weg zurück nach Kalkutta gefunden. Allein. Ich wartete einige Wochen, bis mein Geld fast aufgebraucht war. Dann, sobald ich begriff, dass er nicht zurückkommen würde, tat ich, was er mir aufgetragen hatte.«
»Du warst sehr mutig.« Mark schob ihr die Hand über die Schulter, in ihren zierlichen Nacken. Er zog sie dicht an sich und bettete seine Stirn an ihre. »Du hattest keine andere Wahl.«
»Ich weiß nicht.« Sie drückte sein Bein. »Ich habe Leute belogen. Leute,
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