Das Mitternachtskleid
1
Ein toller Hecht
Was fanden die Menschen bloß an Lärm so toll? Tiffany Weh verstand es nicht. Wieso war Lärm so wichtig?
Dicht neben ihr ertönte ein Brüllen wie von einer Kuh in den Geburtswehen. Es quoll aus einem alten Leierkasten, der von einem zerlumpten Mann mit verbeultem Zylinder malträtiert wurde. Tiffany suchte möglichst unauffällig das Weite. Aber das Gedudel hatte etwas derart Klebriges an sich, dass man Angst haben musste, es würde einem bis nach Hause hinterherkriechen, wenn man nicht aufpasste.
Doch in diesem lärmenden Hexenkessel war das Gebrüll nur ein Geräusch von vielen – samt und sonders von Menschen gemacht, die alles daransetzten, sich beim Krachmachen auch ja nicht übertrumpfen zu lassen. Sie krakeelten an den Bretterbuden, sie tauchten nach Äpfeln oder Fröschen 1 , sie bejubelten die Preisboxer und die Seiltänzerin in ihrem Glitzerkostüm, sie priesen lauthals Zuckerwatte an, und sie sprachen – ohne etwas beschönigen zu wollen – in nicht unerheblichem Maße dem Alkohol zu.
Das ganze grüne Hügelland lag unter einer Decke aus Lärm, als hätten sich die Einwohner von zwei, drei Kleinstädten dort eingefunden. Wo sonst höchstens der Schrei eines Bussards zu vernehmen war, johlte und grölte es nun in einer Tour. So etwas nannte man dann »sich vergnügen«. Lediglich die Taschen- und sonstigen Diebe gingen ihren Geschäften in löblicher Stille nach, wobei sie um Tiffany vorsichtshalber einen großen Bogen machten. Wer wollte schon einer Hexe in die Tasche fassen? Es stand zu befürchten, dass man seine Finger nicht vollzählig wieder zurückbekam. Und eine kluge Hexe bestärkte sie natürlich nach Kräften in dieser Furcht.
Ist man eine Hexe, ist man alle Hexen, dachte Tiffany Weh, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte, ihren Besen an einer Schnur hinter sich herziehend. Er schwebte einige Fuß hoch über der Erde. Das funktionierte zwar einigermaßen, störte sie aber auch ein bisschen. Da überall auf dem Jahrmarkt kleine Kinder mit Luftballons herumliefen, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine ziemlich lächerliche Figur abgab. Und wer eine Hexe blamierte, blamierte alle Hexen.
Doch wenn sie den Besen einfach an einer Hecke angebunden hätte, wäre mit Sicherheit irgendein frecher Junge auf die Idee gekommen, ihn loszumachen und sich als Mutprobe daraufzuschwingen, woraufhin er wahrscheinlich prompt bis in die obersten Schichten der Atmosphäre hinaufgeschossen wäre, wo die Luft gefror. Natürlich war Tiffany theoretisch in der Lage, den Besen wieder zurückzurufen, aber Mütter konnten nun einmal ziemlich verschnupft reagieren, wenn sie an einem warmen Spätsommertag ihr Kind auftauen mussten. So etwas käme gar nicht gut an. Man würde über sie tuscheln. Über Hexen wurde immer getuschelt.
Also blieb Tiffany nichts anderes übrig, als den Besen weiter hinter sich herzuziehen. Mit ein bisschen Glück würden es die Leute ja vielleicht für ihren scherzhaften Beitrag zu der ausgelassenen Festtagsstimmung halten.
Die Etikette musste gewahrt bleiben, selbst auf einer scheinbar so ungezwungenen Veranstaltung wie einem Jahrmarkt. Sie war die Hexe. Sie konnte es sich nicht leisten, einen Namen zu vergessen oder – noch schlimmer – zwei Namen zu verwechseln. Nicht auszudenken, wenn sie Cliquen und Klüngel durcheinanderbrachte, wenn sie vergaß, wer mit wem zerstritten war oder wer mit welchem Nachbarn nicht mehr redete und so weiter und so weiter und so fort. Tiffany kannte das Wort »Minenfeld« nicht, aber der Sachverhalt war ihr durchaus geläufig.
Sie war die Hexe. Und zwar die Hexe für das gesamte Kreideland – nicht mehr nur für ihr eigenes Dorf, sondern für alle Dörfer bis hinüber nach Ham-am-Egg, das einen relativ strammen Tagesmarsch entfernt lag. Ein Gebiet, für das sich eine Hexe verantwortlich fühlte und für deren Bewohner sie tat, was getan werden musste, galt als ihr Revier, und Tiffanys Revier war nicht das schlechteste. Es gab nicht viele Hexen, die gleich für eine ganze geologische Formation zuständig waren, auch wenn diese zum größten Teil mit Gras und das Gras zum größten Teil mit Schafen bedeckt war. An diesem Tag mussten die Schafe, um deren Wohl und Wehe und Wolle sich in den Hügeln normalerweise alles drehte, auf sich selbst aufpassen. Sie durften tun und lassen, was sie wollten, also vermutlich genau das Gleiche, wonach ihnen auch sonst der Sinn stand. Denn heute interessierte sich
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