Shane - Das erste Jahr (German Edition)
zuvor gespürt hatte. Doch sie wusste nicht, was es bedeutete, sie wusste nicht, in welche Richtung sie gehen sollte.
Shane straffte die Schultern und atmete tief ein. Sie hatte sich entschieden. Sie hatte sich entschieden zu leben. Und zwar als das, was sie war. Sie würde die Richtung schon wissen, wenn es soweit war. Immer einen Schritt nach dem anderen.
Als sie in den Weg zum Haus einbog und sah, dass der Van noch nicht auf dem gepflasterten Rechteck am Ende der Einfahrt stand, atmete sie auf. Ein Problem weniger.
Sie hatte sich kaum ausgezogen, als sie die Eltern kommen hörte.
„Shane, hallo, du bist noch auf?“
„Ja, ich …“ Sie musste sich zwingen, ruhig zu sprechen. Ruhig zu bleiben.
„Oh, das ist gut.“ Die Mutter kam lächelnd näher. „Wir haben nämlich vor, dich wahnsinnig zu loben. Deine Lehrer sind sehr zufrieden mit dir!“
Shane zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, das ist toll.“ „Alles in Ordnung?“ Gertie hatte sie an den Schultern gefasst und blickte sie liebevoll an. Noch mehr Zuspruch schien Shane nicht ertragen zu können. Sie fühlte die Tränen aufsteigen.
„Shane, hey, alles klar?“
„Ja.“
Der Vater hatte seine Jacke aufgehängt und kam näher.
Shane versuchte den riesigen Kloß in ihrem Hals runter zu schlucken. „Ich möchte jetzt mit Mark sprechen. Wisst ihr, wo er ist?“
Die Mutter runzelte die Augenbrauen. „Shane.“
„Ich muss jetzt unbedingt mit Mark sprechen!“
Die Eltern sahen sich an. Der Vater rang die Hände und kam auf Shane zu. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Oder nicht wollte.
„Shane.“
Sie schluckte.
„Shane, Mark ist …“ Er warf Gertie einen fragenden Blick zu.
„Mark ist weg.“
Shane schaute die Eltern bestürzt an. „Nein.“, sagte sie tonlos.
„Shane, er ist weg. Er wird nicht wiederkommen.“
„Nein!“ Shane drehte sich um und rannte die Treppen hinauf.
Ihr Herz raste und ihre Augen brannten, doch sie wollte es nicht glauben. Es konnte nicht wahr sein, dass …
Shane riss die Tür zu Marks Zimmer auf. Es war wahr. Sie wusste es sofort. Sie lief in das Zimmer und blieb in der Mitte stehen.
Mark war weg.
Sie brauchte nicht in seinen Schrank zu schauen oder seine Bücher und Cd’s zu durchsuchen, sie wusste es. Er war verschwunden. „Nein.“, flüsterte sie. Shane fühlte sich für einen Moment unfähig zu bewegen, dann drehte sie sich um und lief in ihr Zimmer.
Vor dem Kleiderschrank blieb sie unschlüssig stehen, sie atmete tief ein und ging auf ihn zu. Shane öffnete die Türen, schob die Kleider auseinander und fuhr mit der Hand an der Rückseite des Schrankes entlang. Sie fand den Zettel sofort.
„Shane.
Ich habe die Stadt verlassen. Ich werde mir ein neues Revier suchen. Ich habe den Jägern gesagt, sie sollen dich in Ruhe lassen, doch ich weiß nicht, wie lange sie das tun werden.
Ich werde nicht mehr zurückkommen. Es gibt keinen gemeinsamen Weg für uns beide.
Mark.“
Shane flog mit den Augen über das Papier in ihrer Hand, immer wieder, sie schüttelte den Kopf und begann zu schluchzen.
In einem kleinen Haus außerhalb der Stadt, im oberen Stock in einem der Kinderzimmer ließ sich am späten Abend ein Mädchen auf die Knie fallen, es hielt einen Zettel in den zittrigen Händen und weinte ihn klagend an, als enthielte er die schlimmsten Worte, die es jemals gelesen hatte.
„Kriminalität in der Stadt auf ein Minimum zurückgegangen. So wie der Frühling den Schnee innerhalb von ein paar Tagen auf unseren Straßen hat schmelzen lassen, schien er es wohl mit den Aggressionen der Jugendbanden getan gehabt zu haben. Bei der gestrigen Pressekonferenz teilte ein äußerst zufriedener Inspektor Thorsten dem Publikum mit, dass seit sechs Wochen keinerlei Vorfälle im Inneren der Stadt gemeldet worden sind. Thorsten zeigte sich überzeugt, dass sowohl die ausgezeichnete Arbeit der Polizei als auch das Winterende damit zu tun haben.“
„Zirkus Konarossa geht auf Tour.
Nach einer erfolgreichen Wintersaison in der Stadt begibt sich der Zirkus Konarossa nun erneut auf eine ausgedehnte Tour durch Deutschland. Der Zirkus, der mit verschiedenen Einrichtungen viele Projekte ins Leben gerufen und sich aktiv an gemeinnützigen Veranstaltungen beteiligt hatte, verlässt auf eine unbestimmte Zeit sein Quartier nahe der äußeren Stadtmauer.
Oberbürgermeister Waller betonte, die Stadt würde „ihren Zirkus“ jederzeit mit offenen Armen wieder
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