Shane - Das erste Jahr (German Edition)
mit der Kuppel zu ihrem neuen Anführer wählen wollten, ging die letzten Schritte. Er hatte die Anwesenheit der immensen Kraft, jener Kraft, der er schon in den Katakomben begegnet war, sofort gespürt, er hatte seine eigene zurückgenommen, er wollte ein Blutbad verhindern, er wollte niemanden töten, es war schon genug Blut geflossen.
Zu viel.
Als er den letzten Schritt getan und dann nach vorn geblickt hatte, hatte er kurz das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Er erblickte die Person, doch es kam ihm mit einem Mal sehr komisch vor, Gefühle von aberwitziger Komik durchzuckten ihn.
Dann war sein Verstand wieder bei ihm, drängte alle unsinnigen Gedanken beiseite und stand ihm messerscharf zur Seite. Er blickte auf die Person, die da vor ihm stand und gerade seinen Namen gesagt hatte. Der neue Anführer öffnete den Mund, und auch, wenn sein Verstand wieder klar war, war seine Stimme brüchig.
„Shane.“
Im inneren Kern der Stadt, innerhalb der Stadtmauern, schien für einen Moment die Welt stillzustehen, die Zeit erstarrte im Stillstand, vibrierte wie die grauen alten Mauern der Stadt und bewegte sich keine Sekunde vorwärts.
Shane sah vor sich ihren Bruder stehen, einen Menschen, den sie ihr Leben lang kannte und gleichzeitig nicht kannte, nie gekannt hatte. Gedanken rasten durch ihren Kopf wie auf der Flucht, doch sie starrte nur nach vorn, konnte nichts anderes tun als ihn unentwegt anzusehen, fast so, als wünschte sie sich, er würde sich vor ihren Augen auflösen wie eine Fata Morgana.
Mark sah vor sich seine Schwester stehen, er glaubte sie zu sehen, er hatte noch immer die Hoffnung, dass sie es nicht war, dass es kein Kind war, welches hier vor ihm stand, dass es kein Mädchen war. Gedanken stürzten durch seinen Kopf und fielen ins Bodenlose, er selbst konnte nicht anderes tun, als sie anzustarren.
Die Stadt vibrierte unter seinen Füßen, sein Verstand übernahm wieder die Kontrolle und bemerkte, wie die Jäger, seine Jäger, ihn erwartungsvoll anblickten.
Sie warteten auf ihn, sie warteten auf ein Zeichen. Mark schüttelte kaum merklich den Kopf, jede Bewegung schien ihn auf einmal zu schmerzen.
Oh, Shane!
Mark streckte seine Hand aus, er ballte sie zur Faust und streckte dann die ersten drei Finger aus. Er knickte den Mittelfinger ein.
Shane starrte ihren Bruder an, einen Menschen, den sie ihr Leben lang kannte und wiederum nicht kannte.
Sie konnte eine Bewegung wahrnehmen, doch ihr Verstand wirbelte nur so dahin.
Mark knickte den Zeigefinger ein. Die Jäger neben ihm schienen zu schnauben wie Pferde unmittelbar vor einem Rennen.
Shane’s Augen sahen Mark, sie sahen seine Hand, doch sie konnte immer noch keinen Gedanken fassen.
Mark knickte den Daumen ein. Er hatte nur noch die Faust nach unten gestreckt. Die Jäger um ihn herum fühlten sich an wie die Ruhe vor dem Sturm.
Shane starrte auf die Faust. Ihre Augen schwammen. Nein, Mark, bitte nicht! Doch ihre Beine hatten schon reagiert, sie drehten sich um und rannten davon, sie zogen den restlichen Körper einfach mit sich.
Hinter sich hörte Shane ein Rauschen, welches auf eine Lautstärke anschwoll, die sie nicht zu ertragen schien. Es waren die Gedanken der Jäger, die sich auf sie stürzten. Fast fühlte sie, wie die ersten Pfeile heranflogen und sich in ihren Hals bohrten.
Dann übermannten sie ihre Gedanken, sie fiel in eine Art mentales Koma, ihre Beine rannten weiter, sie trugen sie über die nasskalten Pflastersteine der dunklen Gasse, und die Jäger, die ihr nachsahen, und nicht imstande waren, ihr zu folgen, sahen, wie ein kleines Mädchen die Häusermauern erklomm in einer Geschwindigkeit, wie sie noch nie jemand von ihnen gesehen hatte, ja, auch nur erahnt hätte.
Das Mädchen, welches viel zu klein war für die Macht, die in ihm steckte, war in der nächsten Sekunde über die Dächer der geduckten Häuser verschwunden und hinterließ nichts als einen leisen Gedanken.
Diejenigen der Jäger, die es angesichts der unsichtbaren Kraft schafften, ihrem eigenen Denken zu folgen, ahnten, dass diese Macht, dieses Mädchen, welches ihnen gerade entflohen war, die Macht war, von der in den Büchern die Rede war.
Die Voraussagung.
Das Gleichgewicht.
Shane wachte außerhalb der zweiten Mauer auf. Der Schnee unter ihrem Gesicht schmolz und vereinte sich mit dem eisigen Schmerz in ihrem Kiefer. Sie versuchte, sich auf die Arme zu stützen. Sie war zu schwach, sie schaffte es kaum den Kopf zu
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