Shannara V
den Glockenturm führte, und begannen hinaufzusteigen. An manchen Stellen waren die Stufen abgestürzt, und nur die Verankerung war übriggeblieben. Sie balancierten über die Löcher und stiegen unermüdlich weiter. Sie ließen eine Etage nach der anderen unter sich, jede mit Löchern im Boden und übersät mit Schutt, und alles war versteinert und im Zustand des Verfalls perfekt erhalten.
Ohne weitere Schwierigkeiten gelangten sie auf die oberste Etage des Glockenturms und traten an die Fenster. Die Stadt Eldwist erstreckte sich nach allen Seiten, dunstig und grau, und schon füllte sie sich mit den Schatten des zur Neige gehenden Tages und dem Herannahen der Nacht. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und die Häuser erhoben sich wie steinerne Wächter über die Halbinsel. Die Wolken hatten sich ein wenig gelichtet, und die geschieferte Wasseroberfläche des Gezeitenstroms und die zerklüfteten Klippen des Festlandes jenseits der Landenge waren durch Lücken in den langen Ketten steinerner Mauern zu sehen.
Die Kuppel stand direkt unter ihnen, von oben ebenso verschlossen und undurchschaubar, wie sie es von unten gewesen war. Es war nichts zu erkennen, kein Zeichen einer Öffnung, kein Hinweis auf einen Eingang. Dennoch betrachteten sie sie eine Weile in der Hoffnung, irgend etwas zu entdecken, das ihnen entgangen war.
Während sie mitten in ihrer Betrachtung waren, erschreckte sie plötzlich ein Hornsignal.
»Urdas!« schrie Carisman.
Walker und Quickening schauten einander erstaunt an, doch Carisman war schon an das Südfenster des Turms gesprungen und spähte in Richtung der Landenge und der Klippen, die hinunterführten.
»Das müssen sie sein, es ist ihr Signal!« rief er aufgeregt und beunruhigt. Er überschattete seine Augen gegen das blendende Licht, das sich auf dem nassen Stein spiegelte. »Dort! Seht ihr sie?«
Walker und Quickening rannten zu ihm. Der Sänger zeigte auf die Stelle, wo die Stufen von der Aussichtsplattform die Klippen hinunterführten und im Nebel kaum zu erkennen waren. Man konnte auf der Treppe eine Bewegung ausmachen, kleine, gebeugte Gestalten, tief gebückt, als wollten sie sich selbst vor den Schatten verstecken. »Urdas«, erkannte Walker, und sie kamen herunter.
»Was denken sie sich eigentlich!« rief Carisman sichtlich bestürzt. »Sie können doch nicht herkommen!«
Die Urdas wurden von einer Nebelwolke verschluckt. Carisman wirbelte zu seinen Gefährten herum. »Wenn sie nicht aufgehalten werden, werden sie alle getötet!« rief er verzweifelt aus.
»Du bist nicht mehr für sie verantwortlich, Carisman«, beschwichtigte ihn Walker Boh sanft. »Du bist nicht mehr ihr König.«
Carisman war nicht überzeugt. »Es sind Kinder, Walker! Sie haben keine Ahnung, was hier unten lebt. Der Kratzer oder der Malmschlund werden sie vernichten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie überhaupt am Koden vorbeigekommen sind …«
»Genauso wie Horner Dees vor zehn Jahren«, unterbrach ihn Walker. »Indem sie Leben geopfert haben. Und trotzdem streben sie weiter. Offenbar machen sie sich nicht so viel Sorgen um sich selbst wie du um sie.«
Carisman wandte sich aufgeregt an Quickening. »Lady, du hast gesehen, wie sie reagieren. Was wissen sie schon vom Steinkönig und seiner Magie? Wenn sie nicht aufgehalten werden …«
Quickening faßte seine Arme und hielt sie fest. »Nein, Carisman. Walker Boh hat recht. Die Urdas sind jetzt eine Gefahr für dich.«
Aber Carisman schüttelte energisch den Kopf. »Nein Lady, für mich niemals. Sie waren meine Familie, ehe ich sie im Stich gelassen habe.«
»Du warst ihr Gefangener!«
»Sie haben sich um mich gekümmert und mich in der einzigen Weise beschützt, die sie kennen. Lady, was soll ich tun? Sie sind hergekommen, um mich zu suchen! Warum sollten sie sonst ein solches Risiko eingehen? Ich glaube, sie haben sich noch nie so weit von ihrer Heimat entfernt. Sie sind hier, weil sie glauben, ihr habt mich entführt. Darf ich sie ein zweites Mal im Stich lassen, und diesmal, damit sie für einen Fehler sterben, den zu begehen ich sie hindern kann?« Carisman befreite sich vorsichtig. »Ich muß zu ihnen gehen. Ich muß sie warnen.«
»Carisman …«
Der Sänger war schon bis an die Glockenturmtreppe zurückgewichen. »Ich bin mein ganzes Leben lang ein Waisenkind des Sturms gewesen, bin von einer Insel zur nächsten geweht worden, niemals hatte ich eine Familie oder ein Heim, war ständig auf der Suche nach einem Ort, wo ich zu Hause
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