Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville
Silberadern an den Flanken der Hügel glitzern und Granitblöcke in der Ferne schimmern, wenn das Licht auf ihre nassen Flächen fällt. Drinnen wie draußen ist es gleich trübsinnig. Nach den Aufregungen der letzten Nacht ist der Baronet schlecht gelaunt. Auch mein Herz ist schwer, und ich habe das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr, die um so schlimmer ist, weil ich nicht sagen kann, worin sie besteht.
Habe ich nicht Grund für solche Befürchtungen? Man braucht nur die lange Reihe der Ereignisse zu betrachten, die alle auf einen unguten Einfluß hindeuten, der um uns herum am Werk ist. Da ist der Tod des letzten Schloßherrn, an dem sich buchstabengetreu die Familiensage erfüllte. Und da sind die wiederholten Berichte von Bauern über das Erscheinen der merkwürdigen Kreatur auf dem Moor.
Zweimal habe ich mit eigenen Ohren dieses Geheul gehört, das wirklich an einen Hund erinnert. Es ist unglaublich und unmöglich, daß sich hier etwas außerhalb der normalen Naturgesetze abspielen sollte.
Einen Geisterhund, der Fußspuren hinterläßt und mit seinem Geheul die Luft erfüllt, gibt es nicht und kann es nicht geben. Stapleton mag sich solchem Aberglauben hingeben und Mortimer auch, aber wenn ich etwas besitze, dann ist es gesunder Menschenverstand, und nichts soll mich dazu bringen, an so etwas zu glauben. Denn damit würde ich mich auf eine Stufe mit den armen Bauern stellen, die nicht mit einem einfachen Höllenhund zufrieden sind, sondern ihn auch noch ausschmücken müssen, mit Höllenfeuer, das ihm aus Maul und Augen schießt. Holmes würde auf solche Märchen niemals hören, und ich bin in
seinem Auftrag hier.
Aber Tatsachen sind Tatsachen: Ich habe zweimal das Geheul auf dem Moor gehört. Wenn wir einmal annehmen, daß da wirklich ein riesiger Hund frei herumläuft, würde das schon eine Menge erklären. Aber wo könnte ein solcher Hund sich verstekken, woher bekäme er sein Futter, wo könnte er herkommen, und wie kommt es, daß niemand ihn bei Tage gesehen hat? Ich muß zugeben, daß die natürliche Erklärung fast ebensoviel Schwierigkeiten bietet wie die übernatürliche.
Abgesehen von dem Hund bleibt da immer noch die Tatsache menschlicher Machenschaften in London: der Mann in der Droschke und der Brief, der Sir Henry warnte, nicht auf das Moor hinauszugehen. Dies wenigstens war Menschenwerk, aber es kann ebensogut das Werk eines fürsorglichen Freundes wie das eines Feindes gewesen sein. Wo ist dieser Freund oder Feind jetzt? Ist er in London geblieben, oder ist er uns hierher gefolgt? Könnte er - könnte er der Fremde sein, den ich auf der Felsspitze gesehen habe?
Es ist wahr, ich habe nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können, und doch kann ich ein paar Dinge von ihm sagen und bin bereit, sie zu beschwören: Es ist niemand, den ich vorher gesehen hätte, denn ich kenne inzwischen alle Nachbarn. Der Mann war viel größer als Stapleton und schlanker als Frankland.
Möglicherweise könnte Barrymores Figur passen, aber wir hatten ihn ja zurückgelassen, und ich bin sicher, daß er uns nicht gefolgt ist. Ein Unbekannter beschattet uns also, genau wie uns in London ein Unbekannter beschattet hat. Wir haben ihn niemals abgeschüttelt. Wenn ich diesen Mann zu fassen bekäme, dürften wir am Ende unserer Schwierigkeiten sein. Diesem Ziel muß ich jetzt alle meine Kräfte widmen.Mein erster Impuls war, Sir Henry meinen Plan darzulegen. Mein zweiter und sicherlich auch viel weiserer Gedanke war jedoch, auf eigene Faust zu handeln und so wenig wie möglich darüber zu reden. Er ist schweigsam und mürrisch. Seine Nerven sind noch von dem Geheul auf dem Moor
angegriffen. Ich werde nichts sagen, um seine Ängste nicht noch zu vergrößern, aber die nötigen Schritte tun, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Heute morgen nach dem Frühstück hatten wir eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um eine
Unterredung. Sie waren eine Weile in Sir Henrys Arbeitszimmer zusammen. Ich saß im Billardzimmer und hörte mehr als einmal, wie die Stimmen lauter wurden. Es war mir ziemlich klar, welches Thema zur Diskussion stand. Nach einer Weile bat mich der Baronet herein.
»Barrymore glaubt, sich beschweren zu müssen«, sagte er. »Er meint, daß es unfair von uns war, seinen Schwager zu jagen, da er uns freiwillig das Geheimnis verraten hat.«
Der Butler stand sehr blaß, aber gefaßt vor uns.
»Wenn ich zu heftig geworden bin, Sir«, sagte er, »dann bitte ich um Verzeihung. Aber zugleich muß ich
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