Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
EINLEITUNG
Sherlock Holmes und das „Unmögliche“
Christian Endres
Über manche Dinge muss man nicht diskutieren.
Etwa darüber, dass Sherlock Holmes eine der größten und archetypischsten Mythen-Schöpfungen der Weltliteratur ist. Der Meisterdetektiv aus der Baker Street erfreut sich auch im 21. Jahrhundert großer Beliebtheit und ist einfach nicht totzukriegen – eine Erfahrung, die sein geistiger Vater – Sir Arthur Conan Doyle – schon vor knapp 120 Jahren machen musste. Obwohl Holmes dem schottischen Arzt, Globetrotter und Mann von Welt einiges an Ruhm und Reichtum brachte, hat Conan Doyle es nie überwunden, dass er und sein übriges literarisches Schaffen stets im Schatten von Londons erstem beratenden Detektiv standen. Dafür hat er seine historischen Romane zu sehr geliebt. Doch der Autor konnte schon zu Glanz- und Lebzeiten machen, was er wollte, und seinen Ermittler zum Beispiel an den Reichenbachfällen im Kampf gegen den Napoleon des Verbrechens „sterben“lassen. Oder illusorische Honorarforderungen an seine Verleger stellen – Holmes kehrte immer zurück. Über kurz oder lang standen die Menschen am Morgen wieder vor den Zeitungsständen Schlange, um das neueste Holmes-Abenteuer zu erstehen – nicht das neueste Werk von Sir Arthur Conan Doyle wohlgemerkt, sondern den neuesten Sherlock Holmes .
Conan Doyle litt also durchaus bis zu einem gewissen Grad unter dem gigantischen Erfolg seines fiktiven Helden, so komfortabel das Leben auch war, das Holmes ihm sicherte.
Science-Fiction-Altmeister Isaac Asimov, der bereits 1984 eine Anthologie mit SF- und Fantasy-Geschichten um das viktorianischdynamische Duo Holmes/Watson herausgab, warf einst sogar die Theorie in den Raum, dass sich Conan Doyle in späteren Jahren vielleicht gar nur deshalb dem Spiritismus zuwandte und fortan verbissen an Elfen, Feen und alles Okkulte glaubte, um sich auf einem Gebiet zu profilieren, auf dem der große Sherlock Holmes keinerlei Macht hatte, keinerlei Reputation besaß.
Kein schlechter Gedanke. Denn selbst wenn spätere Autoren ihn ins Wunderland oder nach Oz schickten und mit Vampiren, Werwölfen, Geistern, Lovecrafts Tentakelgöttern und vielem mehr konfrontierten, hegte Holmes unter Conan Doyle in den zwischen 1887 und 1927 erschienenen sechsundfünfzig Kurzgeschichten und vier Romanen eine besondere Beziehung zum Unmöglichen. Der große Detektiv predigte es oft genug, und „Watson“zitierte es genauso eifrig: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, egal wie unwahrscheinlich es scheint.
Elementar, mein lieber Watson, oder doch nur eine geschickte Verschleierung der Tatsache, dass Sherlock Holmes nicht an das Übersinnliche glauben wollte?
Er war stets ein Skeptiker und Pragmatiker – ein brillanter Verfechter der Logik, ein Kind der Wissenschaften und der Moderne, ein Pionier der Tatortuntersuchung und der Gerichtsmedizin. Mit dem Übersinnlichen hatte der Detektiv es allerdings überhaupt nicht, so biegsam und flexibel sein Verstand sonst auch war. Fast schien es, als würde sich Holmes viel mehr sogar doppelt anstrengen, um eine rationale Erklärung zu finden, wenn ein Problem oder Fall auf eine „übernatürliche Lösung“hinauszulaufen drohte – als würde sich der kokainstimulierte Freidenker der Möglichkeit, dass es mehr geben könnte als die in seinen Wissenschaften verankerten Wahrheiten, mit aller Macht verweigern.
Die Quittung für diese Ignoranz gegenüber dem Übersinnlichen und damit letztlich dem Fantastischen bekam der große Sherlock Holmes ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich PasticheAutoren mindestens im selben Maß anstrengten, ihn in neuen Geschichten eben doch mit dem Übernatürlichen und dem Übersinnlichen in Berührung zu bringen. Allerdings würde es der Sache nicht gerecht werden, die bewährte Tradition des fantastischen Holmes-Pastiches allein auf Rachegelüste zurückzuführen. Nur Lestrade würde so denken und den Fall zu den Akten legen. Holmes dagegen würde schnell darauf kommen, dass es auch handwerkliche Gründe gibt, die die anhaltende Faszination und Vorliebe fantastischer Autoren für den zeitlosen Gentleman-Meisterdetektiv erklären.
Denn letztlich ist Holmes wie geschaffen dafür, um ihn mit dem Fantastischen und dem Paranormalen zu konfrontieren. Er verliert nie den Kopf, weiß immer wo es langgeht, hat stets eine kluge Lösung parat, denkt um alle Ecken und kann sich körperlich resolut zur Wehr
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