Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Emotionen beinahe physisch zu unterdrücken. Holmes empfand Gefühle als störend, ja als bedrohlich. Er war überzeugt davon, daß sie das für seine Arbeit erforderliche präzise Denken herabmindern würden, und er war entschlossen, dagegen anzugehen. Er wich allen Empfindungen aus; die seltenen Anlässe, bei denen sich die Schleusen öffneten und seine Gefühle offenbar wurden, hatten etwas Erschreckendes. Es war, als beobachte man das Zucken leuchtender Blitze über einer dunklen Ebene.
Um solche Ausbrüche zu vermeiden – deren Plötzlichkeit nicht nur andere, sondern auch ihn selbst aus dem Gleichgewicht brachte –, verfügte Holmes über einen wahren Hort von Hilfsquellen, die (ob er es nun zugab oder nicht) ganz der Erleichterung seiner emotionalen Spannungen dienten. Sein eiserner Wille hatte die konventionellen Möglichkeiten des Selbstausdrucks längst ausgemerzt, und er nahm Zuflucht zu abstrusen und oft sehr übelriechenden chemischen Experimenten; er improvisierte stundenlang auf der Geige (ich habe meiner Bewunderung für sein musikalisches Talent andernorts Ausdruck verliehen); oder er verzierte die Wände unserer Wohnung in der Baker Street mit Einschüssen aus seiner Pistole, die oft die Initialen unserer allergnädigsten Herrscherin bildeten, der Königin Victoria, oder irgendeiner anderen Standesperson, die seinen ruhelosen Geist gerade beschäftigte.
Außerdem nahm er Kokain.
Es mag manchem merkwürdig erscheinen, daß ich eine neue Chronik in so umständlicher Weise beginne. Ja, daß ich überhaupt noch eines seiner Abenteuer niederschreibe, mag befremden. Ich will versuchen, die Ursprünge der Erzählung und die Verspätung zu erklären, mit der ich sie dem Leser unterbreite.
Die Hintergründe dieses Manuskripts haben mit denen vergangener Fälle nicht das geringste gemein. In allen meinen anderen Aufzeichnungen habe ich mich ständig meiner Notizen bedient. Während der Zeit, in der das hier Niedergeschriebene sich ereignete, habe ich mir überhaupt nichts notiert. Diese meine scheinbare Pflichtvergessenheit hatte zwei gute Gründe. Erstens begann der Fall unter so außergewöhnlichen Umständen, daß er schon weit fortgeschritten war, bevor ich ihn überhaupt als solchen erkannte. Zweitens war ich aus vielen Gründen davon überzeugt, daß dieses Abenteuer für immer geheim bleiben müsse.
Daß ich mich in dieser Annahme irrte, bezeugt das vorliegende Manuskript. Und obwohl ich aus moralischen Gründen davon überzeugt war, daß sich nie Gelegenheit zu einer Publizierung finden würde, hatte ich Grund, auch seine geringsten Einzelheiten niemals zu vergessen. Ich kann sagen, daß jedes Detail meinem Gedächtnis eingegraben ist bis zu meinem Tode, möglicherweise sogar darüber hinaus; allerdings ist Metaphysik nicht meine Stärke.
Die Gründe für die verspätete Veröffentlichung sind komplexerer Art. Ich habe schon erwähnt, daß Holmes ein reservierter Mann war, und gerade dieser Fall kann ohne eine Analyse seiner Persönlichkeit, die ihm zu Lebzeiten widerwärtig gewesen wäre, nicht festgehalten werden. Allerdings war das nicht das einzige Hindernis. Sonst hätte ich dies schon vor zehn Jahren niedergeschrieben, als er in den von ihm so geliebten Hügeln von Sussex seinem Ende entgegensah. Auch hätte ich mich nicht geschämt, das Buch, wie es so schön heißt, ›über seine Leiche hinweg‹ zu schreiben. Denn Holmes war äußerst skeptisch, was sein jenseitiges Leben betraf. Es bekümmerte ihn nicht im geringsten, ob seine irdischen Werke ihm auf der Reise in jenes unbekannte Land nachfolgen würden, von dem kein Wanderer je zurückkehrt.
Nein, der Grund ist, daß ein Zweiter in den Fall verwickelt war. Und es war der Respekt vor dem Betreffenden und Sorge um seinen guten Ruf, die Holmes veranlaßten, mir das heilige Versprechen abzunehmen, bis zum Ableben jenes Mannes nichts über die Sache zu verlautbaren. Sollte ich vorher sterben, dann war eben nichts zu ändern.
Aber das Schicksal hat zugunsten der Nachwelt entschieden. Die erwähnte Persönlichkeit ist vor vierundzwanzig Stunden gestorben. Und während die Welt noch von Lobpreisungen (von manchen Seiten auch von Verdammungen) widerhallt, während in aller Eile Biographien und Rückblicke gedruckt und veröffentlicht werden, beeile auch ich mich das niederzuschreiben, was außer mir niemand weiß, solange ich noch die nötigen Kräfte besitze (denn ich bin siebenundachtzig, und das ist ein hohes Alter).
Solch eine
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