Ophran 3 Die entflohene Braut
1. KAPITEL
England
Spätsommer 1883
Wenn es eine Hölle gab, dann saß er mittendrin.
„Sitz still, Jack“, flüsterte Annabelle und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen.
Jack guckte seine Schwester mürrisch an und versuchte, seinen hünenhaften Körper in der engen alten Kirchenbank in eine halbwegs bequeme Position zu bringen. „Wir hocken jetzt schon über eine Stunde in diesem gottverlassenen Mausoleum, und die verfluchte Hochzeit hat noch nicht einmal begonnen. Mir ist schon ganz übel vom Geruch dieser Blumen, ich könnte den Chor erwürgen, und mein Allerwertester ist mittlerweile völlig taub. “
„Der alte Mann dort drüben sieht aus, als wäre er tot. “ Sein Bruder Simon runzelte die Stirn.
Charlotte warf ihren Brüdern einen mild tadelnden Blick zu. „Ich finde die Blumen wunderhübsch“, widersprach sie leise. „Genevieve sagte, die Mutter der Braut, Mrs. John Henry Belford, habe die Arrangements selbst entworfen und dafür fast jedes Gewächshaus in England ausgeräumt. Es muss ein Vermögen gekostet haben. “
„Rosen und Orangenlaub waren eine gute Wahl für die gotischen Gewölbe. “ Ihre Schwester Grace betrachtete die vier prächtigen Blumenbögen, die sich über dem Gang wölbten und einen herrlichen Baldachin aus Blüten bildeten, unter dem die Braut ihren sehnlichst erwarteten Auftritt haben sollte. „Und das Geflecht aus Maiglöckchen und Chrysanthemen am Altargitter ist zauberhaft. “
„Jamie, geh hinüber zu dem alten Mann und vergewissere dich, dass sein Puls schlägt“, meinte Simon, noch immer besorgt um den älteren Herrn ein paar Reihen weiter, der mit geschlossenen Augen reglos dasaß. „Vielleicht braucht er einen Arzt. “
„Er schläft nur“, versicherte ihm sein Bruder. „Ich habe gesehen, wie er sich gekratzt hat. “
„Verdammter Glückspilz“, murmelte Jack.
„Jack! “ Annabelle warf ihm einen empörten Blick zu, während Charlotte und Grace unter der Krempe ihrer riesigen Hüte kicherten.
„Vielleicht solltest du einen Augenblick hinausgehen und dir die Beine vertreten, Jack. “
Haydon Kent, Marquess of Redmond, betrachtete seinen Sohn von der nächsten Bankreihe aus mit einer Mischung aus Mitgefühl und Belustigung. Mit seinen einundsechzig Jahren hatte er gelernt, die vielen öden Gesellschaftsereignisse zu ertragen, denen er auf Grund seiner Stellung beiwohnen musste, doch Jack erkannte deutlich, dass auch er liebend gern aus der stickigen Kirche geflüchtet wäre. „Da die Dinge hier nur im Schneckentempo vorankommen, hast du gewiss noch ein paar Minuten, bis es losgeht. “
„Achte nur darauf, dass du zurück bist, bevor die Brautgesellschaft den Gang hinabschreitet“, fügte Genevieve hinzu. Seine Mutter lächelte ihn liebevoll an. „Keine Braut möchte, dass ein eigensinniger Gast über ihre Schleppe stolpert, wenn sie die Kirche betritt. “
Die riesige Orgel erfüllte die Gewölbe abermals mit ihrem dröhnenden Schall, während der sechzigköpfige Chor sich müde erhob.
„Ich gehe nur ein paar Schritte hinaus. “ Ohne den Einwand abzuwarten, den Annabelle gewiss erheben würde, flüchtete Jack durch den Mittelgang und scherte sich dabei weder um die tadelnden Blicke der Frauen noch um die neidischen ihrer Ehegatten, die heftig schwitzend neben ihnen saßen.
Der betäubende Duft der unzähligen Blüten war unter dem Kirchenportal hindurch ins Freie gedrungen und hing schwer in der heißen Sommerluft. Jack suchte Schutz an der Seite des alten Steingebäudes. Er lockerte seine Krawatte und tat einen tiefen, belebenden Atemzug.
Was ist nur in mich gefahren, dass ich mich habe überreden lassen, dieser albernen Hochzeit beizuwohnen, fragte er sich gereizt. Er kannte den Duke of Whitcliffe kaum und war Amelia Belford, der sagenhaft reichen Erbin aus Amerika, die zu heiraten der alternde Herzog sich endlich doch noch herabgelassen hatte, nie begegnet. Wenn Jack nach drei Monaten auf hoher See nicht so begierig darauf gewesen wäre, seine Familie wiederzusehen, hätte er niemals eingewilligt, an diesem Gesellschaftsereignis teilzunehmen, das sich als das unerträglichste entpuppte, das er in seinen sechsunddreißig Jahren hatte erdulden müssen. Die Üppigkeit, mit der die Kirche geschmückt war, ließ Schlimmes ahnen. Fünfhundert Gäste waren auf das Anwesen des Herzogs geladen, um drei endlose Tage lang zu feiern. Die Kosten dafür tragen gewiss die Brauteltern, dachte Jack, denn es war allgemein bekannt, dass der
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