Shiva Moon
herunterfährt. Es beginnt oben im Treppenhaus, wird schwächer mit jeder Stufe, und untenauf der Straße blendet er völlig aus. Oder soll ich den Plural wählen? Die sechs mg-Hundertschaften haben ihren Job gemacht, und das Erste, was ich schmerzfrei sehe, ist das Eckhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es sieht aus wie aus Büchern gebaut.
Die Mauern, die Fenster, die Türen – alles ist komplett mit Büchern zugestellt. Zwei Stockwerke hoch. Und wo die Bücher einen Blick in die Innenräume zulassen, bietet sich dasselbe Bild. Sie werden gleich vor Büchern platzen. Vor dem Haus stapeln sich Bücher bis tief in die Straße hinein. Und das Nachbarhaus sieht genauso aus. Und auch das Haus daneben. Und das daneben. So weit die Füße tragen, scheint die Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Seite aus Büchern gebaut zu sein, und für die Seite, auf der wir gehen, gilt dasselbe.
«Hier findest du jedes Buch der Welt», sagt Charlotte. «Hier findest du Bücher, die du nicht mal mehr in New York oder Paris bekommst.»
Ich schalte auf Bummeln um. Auf Schleichen. Auf Wandeln. Letztlich auf eine Art zu gehen, die mit vorgetäuschten Bewegungen verschleiern soll, dass man eigentlich stehen bleibt. Ähnlich verhalten sich Astronauten beim Betreten fremder Planeten. Ein Film fällt mir ein. «Fahrenheit 451». Er erzählt von einer Zeit, in der Bücher verboten und Leser Verbrecher sind. Hier ist der Gegenentwurf. Der Planet der Bücher. Die Zentralbibliothek des Universums. Der Norden Kalkuttas könnte locker zweitausend Lichtjahre entfernt von unserer Erde sein.
Zurück im Raumschiff der Klasse Ambassador de Luxe, frage ich Charlotte, was sonst noch so in diesenTabletten ist. Die Wirkung erinnert mich etwas an die des Opiumtees, den ich neulich in Marokko zu mir genommen habe. Charlotte sagt, das ist normal. Alle Schmerzmittel hätten euphorisierende Nebenwirkungen. Aber ich soll mir keine Sorgen machen. Die Begeisterung, die ich momentan für Kalkutta ausstrahle, müsse deshalb nicht unbedingt drogeninitiiert sein. Du bist nicht irre. Die Straßen sind es. Das in etwa ist Charlottes Message, und sie wird mir langsam schwesterlich. Sie ist wie Scarlet. So klug wie sie, so weit gereist wie sie, so alt wie sie. Und ich muss sagen, ich genieße es mehr und mehr, mit Frauen zusammen zu sein, die in meinem Alter sind, aber ich genieße ja anscheinend alles zurzeit.
Nach den Straßen der Bücher kommen die Straßen der Schreiber. Auch noch nie gesehen. Laden an Laden, und in allen stehen auf soliden Tischen Schreibmaschinen aus der Eisenzeit. Ich kenne diese Dinger. Auf ihnen zu tippen heißt, irgendwann mit zwei Fingern den Arm eines Mannes brechen zu können, so muskulös werden sie davon. Die Schreiber stehen rum oder sitzen neben ihren Maschinen mit gekreuzten Beinen auf den Tischen. Andere liegen unter ihnen. Jeder wartet auf seine Weise auf Kundschaft. Nicht auf Inspiration. Sie schreiben keine Romane, keine Novellen, keine Kurzgeschichten. Auch keine Sachbücher. Aber Liebesbriefe, Drohbriefe, Bittbriefe, Amtsangelegenheiten. Sie schreiben für Leute, die nicht schreiben können, und während wir langsam an ihnen vorbeirollen, an Schreiber für Schreiber, an Schreibtisch für Schreibtisch, an Laden für Laden, denke ich, warum eigentlich nicht? Warum könnte hier nichteiner reingehen und sagen: «Ich bin die Wiedergeburt von Rabindranath Tagore, aber aus irgendeinem Grund Analphabet. Vielleicht weil ich im letzten Leben eitel gewesen bin. Wenn du mir hilfst, kriegst du zehn Prozent von dem Reibach, den so ein Nobelpreis bringt. Wird aber ein bisschen dauern. Ich denke so an drei Bände mit jeweils tausend Seiten.» Nee, wird der Schreiber daraufhin sagen, Literaturnobelpreise gibt’s schon ab hundertzehn Seiten («Siddhartha») oder hundertzwanzig («Der alte Mann und das Meer»), außerdem will ich fünfzig Prozent.
Raja unterbricht meine Gedanken mit der Frage, woran ich denke. «An alles oder nichts», sage ich. Und meine es auch so. Ich ertappe mich bei etwas, das auf dieser Reise völlig neu ist. Ich halte Ausschau nach Wohnungen, die man mieten könnte. Für drei Monate, ein halbes Jahr oder meinetwegen auch ewig. Hier könnten meine Füße tatsächlich in Rente gehen. Wenn nur der Smog nicht wäre. «Und vergiss auch den Zahn nicht», sagt Raja dazu ganz richtig. «Nein, flieg zurück, du kannst ja wiederkommen. Ich suche in der Zwischenzeit was Passendes für dich.» Guter Plan. Die Folge
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