Vier Frauen und ein Mord
1
H ercule Poirot kam aus dem Restaurant »La Vieille Grand’mère« in Soho. Er hatte gut gespeist… Und was sollte er jetzt tun?
Ein Taxi fuhr an ihm vorüber, verlangsamte einladend die Fahrt. Poirot zögerte einen Augenblick lang, gab dem Fahrer aber kein Zeichen. Warum sollte er ein Taxi nehmen? Er würde auf alle Fälle zu früh zu Hause sein, um schon zu Bett zu gehen. »Ein Jammer«, murmelte Poirot vor sich hin, »dass man nur dreimal am Tag essen kann…«
Denn der Fünfuhrtee war eine Mahlzeit, an die er sich nie hatte gewöhnen können. Und auch vom Vormittagskaffee hielt er nichts. Nein, er trank Schokolade und aß Croissants zum Frühstück, nahm sein déjeuner wenn möglich um zwölf Uhr dreißig, bestimmt aber nicht später als ein Uhr ein, und schließlich kam der Höhepunkt: le dîner!
Das waren die besten Stunden von Hercule Poirots Tag. Er war immer schon ein Mann gewesen, der seinen Magen ernst nahm. Essen war ihm nicht nur ein körperliches Vergnügen, sondern auch eine geistige Herausforderung. Denn zwischen den Mahlzeiten verbrachte er ziemlich viel Zeit damit, mögliche Quellen neuartigen und köstlichen Essens ausfindig zu machen und sich vorzumerken. »La Vieille Grand’mère« war das Ergebnis einer dieser Forschungsreisen, und »La Vieille Grand’mère« hatte das Gütesiegel von Hercule Poirots gastronomischer Billigung erhalten. Aber jetzt lag unglücklicherweise der Abend vor ihm, mit dem er irgendetwas anfangen musste.
Hercule Poirot seufzte. Er bog ein in die Shaftesbury Avenue. Sollte er weitergehen, bis zum Leicester Square, und den Abend in einem Kino verbringen? Er runzelte die Brauen und schüttelte den Kopf. Alles, meinte Hercule Poirot, war heutzutage zu verkünstelt. Nirgends fand man jene Liebe zu Ordnung und Methodik, die er selbst so hoch schätzte. Und selten wurden Feinheiten richtig gewertet. Gewalt und Brutalität waren modern, und Poirot als ehemaliger Polizeimann langweilten Rohheiten. In seiner Jugend hatte er sehr viel Rohheit gesehen. Sie war eher die Regel gewesen als die Ausnahme. Er hatte sie ermüdend und dumm gefunden.
Er ging an einem Zeitungskiosk vorüber und sah flüchtig auf die Schlagzeilen.
»Ergebnis des McGinty-Prozesses. Das Urteil.«
Das interessierte ihn nicht. Er erinnerte sich dunkel an eine kurze Meldung in den Zeitungen. Es war kein interessanter Mord gewesen. Einer armseligen Alten hatte man wegen ein paar Pfund den Schädel eingeschlagen. Alles ein Teil der sinnlosen Rohheit dieser Tage.
Poirot betrat den Hof seines Mietshauses. Zufrieden ruhte sein Blick darauf. Er war stolz auf sein Heim. Ein prächtig symmetrisches Gebäude. Der Fahrstuhl brachte ihn in den dritten Stock, wo er eine große, bequeme Wohnung hatte. Als er die Tür aufschloss und in die Diele trat, kam ihm sein Diener George leise entgegen.
»Guten Abend, Sir. Ein… Herr wartet auf Sie.«
Geschickt nahm er Poirot den Mantel ab.
»Ja?« Poirot hatte die winzige Pause vor dem Wort »Herr« sehr wohl bemerkt. George war ein ganz besonderer Snob.
»Wie heißt er?«
»Ein Mr Spence, Sir.«
»Spence.« Im Augenblick sagte der Name Poirot nichts. Aber er wusste, dass er ihm etwas hätte sagen sollen.
Poirot blieb einen Augenblick lang vor dem Spiegel stehen, um seinen Schnurrbart in untadelige Ordnung zu bringen. Dann öffnete er die Tür seines Wohnzimmers und ging hinein. Der Mann, der in einem Lehnsessel saß, stand auf.
»Hallo, Monsieur Poirot, ich hoffe, Sie erinnern sich an mich. Es ist lange her… Kommissar Spence.«
»Aber natürlich.« Poirot schüttelte ihm herzlich die Hand.
Kommissar Spence von der Polizei in Kilchester. Das war ein sehr interessanter Fall gewesen… Wie Spence gesagt hatte, es war schon lange her…
Poirot bot seinem Gast eifrig Erfrischungen an. Eine grenad i ne? Crème de menthe? Bénedictine? Crème de cacao?… In diesem Augenblick kam George mit einem Tablett herein, auf dem eine Whiskyflasche und Sodawasser standen. »Oder, wenn es Ihnen lieber ist, Bier, Sir?«, fragte er den Besucher leise.
Kommissar Spences großes rotes Gesicht strahlte.
»Bitte ein Bier«, sagte er.
Poirot blieb wieder einmal nichts anderes übrig, als Georges Vollkommenheit zu bewundern. Er selbst hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er Bier vorrätig hatte, und es schien ihm unbegreiflich, dass man es einem süßen Likör vorziehen konnte.
Als Spence seinen schäumenden Krug vor sich hatte, schenkte Poirot sich ein winziges Glas crème
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