Sie
war selbst erstaunt, wie mühelos ihm diese Lüge über die Lippen kam. Sein Vater hatte eine Lebensphilosophie daraus gemacht, Paul nur insoweit Beachtung zu schenken, wie es absolut nötig war, und sofern Paul sich erinnern konnte, hatte er ihm in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Rat gegeben. An Pauls vierzehntem Geburtstag hatte sein Vater ihm ein in Folie eingeschweißtes Red-Devil-Kondom gegeben. »Tu das in deine Brieftasche«, hatte Roger Sheldon
gesagt, »und wenn du im Autokino mit jemandem rumknutschst und dabei erregt wirst, dann nimm dir einen Moment Zeit, wenn du erregt genug bist, zu wollen, aber noch nicht erregt genug, dass dir alles egal ist, und zieh das über. Es gibt schon zu viele Mistkerle auf der Welt, und ich möchte nicht zusehen, wie du mit sechzehn zur Armee gehen musst.«
Jetzt fuhr Paul fort: »Ich glaube, er hat mich so oft ermahnt, auf meine Brieftasche zu achten, dass es mir wirklich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wenn ich Sie beleidigt habe, dann tut mir das wirklich aufrichtig leid.«
Sie entspannte sich. Lächelte. Die Kluft schloss sich. Die Sommerblumen wiegten sich wieder fröhlich. Er stellte sich vor, wie er die Hand durch dieses Lächeln hindurchstieß und nichts als federnde Dunkelheit fand. »Sie haben mich nicht beleidigt. Sie ist an einem sicheren Ort. Warten Sie - ich habe etwas für Sie.«
Sie entfernte sich und kam mit einem dampfenden Teller Suppe zurück. Gemüse schwamm darin. Er war nicht imstande, viel zu essen, aber er aß mehr, als er zuerst für möglich gehalten hatte. Sie wirkte zufrieden. Während er die Suppe aß, erzählte sie ihm, was geschehen war, und als sie es erzählte, erinnerte er sich an alles, er dachte sich, dass es gut war, zu wissen, wie er zu seinen zerschmetterten Beinen kam, aber die Art und Weise, wie er dieses Wissen erfuhr, war abstoßend - als wäre er eine Person in einem Buch oder einem Theaterstück, eine Person, deren Erinnerung nicht wie Geschichte wiedergegeben, sondern wie Literatur erfunden wurde.
Sie war mit dem Geländewagen nach Sidewinder gefahren, um Futter für ihre Tiere und ein paar Lebensmittel einzukaufen
… und um die Taschenbücher in Wilsons Drogerie durchzusehen - das war am Mittwoch vor mittlerweile fast zwei Wochen gewesen, und die neuen Taschenbücher wurden immer dienstags geliefert.
»Ich hatte sogar an Sie gedacht«, sagte sie und löffelte Suppe in seinen Mund; dann wischte sie professionell mit einer Serviette ab, was ihm übers Kinn lief. »Deswegen ist es ja ein so bemerkenswerter Zufall, verstehen Sie? Ich hatte gehofft, Miserys Kind wäre endlich als Taschenbuch erschienen, aber ich hatte kein Glück.«
Es war ein Sturm aufgezogen, sagte sie, aber bis zum Nachmittag dieses Tages waren die Meteorologen sich sicher gewesen, dass er nach Süden weiterziehen würde, in Richtung New Mexico und zum Sangre de Cristo.
»Ja«, sagte er und erinnerte sich tatsächlich, als er es sagte. »Sie meldeten, er würde abdrehen. Darum bin ich überhaupt erst aufgebrochen.« Er versuchte, seine Beine zu bewegen. Die Folge war ein jäher Schmerz, und er stöhnte.
»Tun Sie das nicht«, sagte sie. »Wenn Sie Ihre Beine zum Sprechen bringen, Paul, dann werden sie nicht mehr verstummen … und ich kann Ihnen erst in zwei Stunden wieder Tabletten geben. Ich gebe Ihnen ohnehin schon zu viel.«
Warum bin ich nicht in einem Krankenhaus? Das war eindeutig die Frage, die er stellen wollte, aber er war sich nicht sicher, ob es eine Frage war, die sie beide ausgesprochen wissen wollten. Jedenfalls noch nicht.
»Als ich zur Futtermittelhandlung kam, sagte Tony Roberts zu mir, dass ich besser auf die Tube drücken sollte, wenn ich vor dem Sturm noch nach Hause wollte, und ich sagte …«
»Wie weit sind wir von der Stadt entfernt?«, fragte er.
»Ein gutes Stück«, antwortete sie unbestimmt und sah zum Fenster. Es folgte eine eigentümliche Zeitspanne des Schweigens, und Paul hatte Angst vor dem, was er in ihrem Gesicht sah, denn was er sah, war nichts; das schwarze Nichts einer Kluft in einer alpinen Wiese, eine Schwärze, wo keine Blumen wuchsen, wo ein Sturz ewig dauern konnte. Es war das Gesicht einer Frau, die vorübergehend losgelöst von allen Belangen und Orientierungspunkten ihres Lebens war, eine Frau, welche nicht nur die Erinnerung vergessen hatte, von der sie gerade erzählen wollte, sondern die Existenz von Erinnerungen an sich. Er hatte einmal eine Nervenheilanstalt besucht - das war schon
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