Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Chris. »Vielleicht mit seinen Schafen.«
Chris lief los, die anderen folgten ihm nach kurzem Zögern. Nach ein paar Schritten waren sie wieder alle auf einer Höhe und eilten den Hügel hinauf. Immer wieder mussten sie dabei unter einer der Hecken hindurchklettern, aber darin hatten sie Übung. Schon als kleine Kinder hatten Kyra und die beiden Geschwister hier gespielt. Die Hecken waren für sie stets so etwas wie geheime Wege gewesen, in deren Schutz sie manches Mal das ganze Hügelland durchquert hatten, ohne von irgendwem gesehen zu werden. Chris dagegen war erst vor kurzem nach Giebelstein gezogen, und obwohl er der Sportlichste der vier war, war er nicht ganz so begeistert, wenn es darum ging, durch das Astwerk der Hecken zu steigen.
Während sie die Hügelflanke hinaufhasteten, erkannten sie, dass der alte Kropf Richtung Giebelstein lief. Sein Japsen und Keuchen wurde immer lauter und schneller. Es war zweifelhaft, ob er es in diesem Zustand überhaupt bis zur Stadt schaffen würde.
Kropf war Schäfer. Er arbeitete für einen der großen Bauernhöfe und war in ganz Giebelstein als kauziges, aber gutmütiges Original bekannt. Tagsüber sah man ihn kaum, denn dann war er mit seinen Schafen auf den Hügeln und Wiesen unterwegs. Abends aber saß er meist in einer der Kneipen und trank mehr, als gut für ihn war.
»He, Kropf«, brüllte Kyra hinter ihm her. Sie duzte ihn, weil auch Kropf zu jedermann in Giebelstein »du« sagte. Außerdem kannte sie ihn seit Jahren. Früher hatte er Kindern auf der Straße manchmal Bonbons geschenkt, bis einige der Eltern ihn gebeten hatten, er möge das lieber bleiben lassen. Kropf hatte einfach nur mit den Schultern gezuckt, ganz wie es seine Art war, und seine Süßigkeiten fortan allein aufgegessen.
»Kropf!«, rief jetzt auch Nils, und diesmal erkannte der alte Schäfer seinen Namen. Im Laufen schaute er sich um. Die Freunde erschraken, als sie die Panik in seinen Zügen sahen, das ängstliche Glühen in seinen Augen.
»Warte doch!«
Kropfs Blick irrlichterte an den Freunden vorüber, tiefer ins Dämmergrün der Hügel, dann blieb er stehen. Mit vornübergebeugtem Oberkörper und keuchendem Atem wartete er, bis die vier aufgeholt hatten.
»Was ist denn los?«, fragte ihn Kyra.
»Ist irgendwas Schlimmes passiert?«, wollte Lisa wissen.
Kropf gab einen weinerlichen Laut von sich, schniefte auf und blickte Lisa dann geradewegs in die Augen. »Was Schlimmes passiert?«, wiederholte er. »Darauf kannst du wohl wetten!«
Chris schob verstohlen den Ärmel seines schwarzen Sweatshirts nach oben. Prüfend musterte er seinen Unterarm, doch die Sieben Siegel, die ihn und die anderen vor der Nähe teuflischer Mächte warnten, blieben unsichtbar. Chris atmete auf. Wenn Gefahr drohte, erschienen sie innerhalb von Sekunden: sieben magische Male, rätselhafte Schriftzeichen, die aussahen, als wären sie von einer überirdischen Macht in ihre Haut tätowiert worden.
Kyras Blick blieb fest auf den alten Schäfer gerichtet. »Wovor hast du solche Angst?«
Kropf schluckte. »Wenn ihr gesehn hättet, was ich gesehn hab, dann würdet ihr die Beine in die Hand nehmen und laufen. Verflucht schnell laufen, jawohl!«
Die vier sahen einander an. Schließlich fragte Lisa: »Was hast du denn gesehen?«
Der Schäfer holte tief Luft. »Wollt ihr das wirklich wissen?«
»Nun erzähl schon«, verlangte Kyra.
Kropf nickte bedächtig, schaute noch einmal prüfend über die Hügel und räusperte sich. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Henrietta ist ermordet worden!«
»Ermordet?«, entfuhr es Kyra.
»Wer ist Henrietta?«, fragte Chris.
Lisa lächelte, aber es wirkte nicht besonders fröhlich. »Ein Schaf.«
Chris stutzte. »Jemand hat ein Schaf ermordet?«
»Nicht einfach irgendein Schaf«, fuhr der alte Schäfer auf. »Meine Henrietta!«
»Sein Lieblingsschaf«, erklärte Nils im Flüsterton.
»Aber wer sollte denn so was tun?«, fragte Lisa.
Kropf schnaubte, dann schluchzte er leise.
»Ich weiß, wer’s war. Ich hab’s gesehn.«
»Wer?«, riefen Kyra und Lisa im Chor.
Der Alte machte eine kurze Pause, so als müsse er sich erst Mut machen, um zu antworten.
»Die Vogelscheuche«, sagte er dann.
Die Freunde schauten einander an.
Chris hüstelte verstohlen. »Eine … Vogelscheuche?«
»Aber ja doch! Ich muss zur Polizei, um das zu melden.« Kropf war plötzlich so aufgebracht, als wollte er einem von ihnen an die Gurgel gehen.
Aber natürlich tat er nichts dergleichen.
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