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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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streckte die Hand aus, um die Scherbe zu berühren, aber Chris hielt sie hastig zurück.
    »Spinnst du? Du kannst das doch nicht anfassen!«
    »Wieso denn nicht?«
    »Weil … weil …«, stammelte Chris, »weil es gefährlich sein könnte.«
    Kyra lächelte. »Angst?«
    »Um dich.«
    Lisa hörte die Worte der beiden. Sie wurde knallrot. Warum war sie nicht selbst vorgesprungen, als Chris auf den Bauern zugegangen war? Dann hätte sie es sein können, die nun die Scherbe aufhob. Vielleicht hätte er dann das Gleiche zu ihr gesagt statt zu Kyra.
    Nils berührte seine Schwester sachte am Unterarm. »He«, flüsterte er leise und klang dabei ungewohnt verständnisvoll. »Mach dir nix draus. Das hat doch nichts zu bedeuten.«
    Lisa war so überrascht über seine Reaktion, dass sie die beiden dort vorne zwischen den Kerzen fast vergaß. Sie konnte nicht anders: Sie schenkte Nils ein dankbares Lächeln.
    Derweil tastete Kyra nach der Scherbe. Chris behielt das starre Gesicht des Bauern im Auge. Bei der winzigsten Regung würde er Kyra zurückreißen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
    Kyra atmete ein letztes Mal tief durch, dann schloss sie ihre Finger um den Rand der Scherbe, riss sie vom Boden und taumelte gefolgt von Chris nach hinten.
    Wolf erwachte ruckartig aus seinem Trancezustand. Ein schrecklicher Laut ertönte aus seinem aufgerissenen Mund, halb Schrei, halb schmerzerfülltes Aufheulen.
    Die vier liefen zurück zum Scheunentor. Dort gewann ihre Neugier die Oberhand. Alle blieben stehen und blickten zurück zu Wolf, der sich mühsam hochrappelte.
    Es war, als hätte man einen Bluthund von der Kette gelassen.
    Wolf begann zu toben, schlug wie wild um sich, trat und boxte ins Leere und hörte dabei nicht auf, die schrecklichen Schreie auszustoßen. Dabei beachtete er die vier Freunde am Tor überhaupt nicht.
    »Er ist nicht hier«, sagte Kyra benommen. »Nicht wirklich. Sein Geist ist irgendwie … anderswo.«
    Die anderen begriffen nicht genau, was sie damit meinte, nahmen aber an, dass sie Recht hatte. Wie so oft griff Kyra unbewusst auf das Wissen ihrer Mutter zurück. Und wie immer erkannte sie dabei Dinge, die eigentlich außerhalb ihrer eigenen Erfahrung lagen.
    »Boralus beherrscht ihn. Deshalb hat er seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken. Der Dämon hat ihn am Leben gehalten, solange der Kontakt zwischen ihnen Bestand hatte. Wolf war sein Diener, sein Sklave.« Kyra betrachtete die Spiegelscherbe in ihrer Hand, die jetzt wieder wie ein ganz normales Stück Glas aussah. »Irgendwie habe ich die Verbindung zwischen ihnen gekappt.«
    Weiter kam sie nicht, denn plötzlich stürmte Wolf aus dem Kerzenzirkel geradewegs auf das Scheunentor zu. Aufgeschreckt rannten die vier Freunde auseinander. Doch noch immer zeigte der abgemagerte Mann kein Interesse an ihnen. Kreischend und tobend drängte er sich ins Freie.
    Rasch versammelten sich die vier neben der Türöffnung. An die Wand gepresst, spähten sie dem Wahnsinnigen hinterher.
    Was sie sahen, erschütterte sie bis ins Mark.
    Der Vorplatz des Hofes war voller Vogelscheuchen. Zwanzig, dreißig, vierzig.
    »Das ist ja –«, begann Nils.
    »Eine ganze Armee«, stöhnte Chris.
    Wie harmlos die Scheuchen aussahen! Wieder standen sie alle vollkommen bewegungslos da, nur die Lumpen wallten um die dürren Holzglieder. Ihre Schädelgesichter waren mit Leinen verhängt.
    Wolf kreischte und lachte irre, lief zwischen den Scheuchen umher wie ein übermütiges Kind, zupfte an den zerfetzten Stoffen oder schnitt ihnen Grimassen.
    »Wolf hat sie in Boralus’ Auftrag erschaffen«, vermutete Kyra. »Er hat die Schädel ausgegraben und zu Scheuchen verarbeitet. Dann hat Boralus selbst ihnen Leben geschenkt – oder was ein Dämon wie er eben unter Leben versteht. Und jetzt sind sie nicht mehr aufzuhalten.«
    Der Bauer lief immer schneller im Zickzack umher. Zweimal sah es so aus, als würde er wieder in die Scheune hineinlaufen. Erschrocken zogen sich die Freunde zurück. Doch dann machte Wolf wieder kehrt und setzte seinen Irrlauf weiter fort, bis plötzlich eine der Scheuchen direkt vor ihm aufragte.
    Wolf war zu schnell, er konnte nicht mehr ausweichen. Schreiend rannte er der Scheuche in die ausgebreiteten Arme.
    Etwas geschah, wenn auch keiner der vier genau erkennen konnte, was es war. Die Berührung hatte irgendetwas in Gang gesetzt. Einen magischen Prozess.
    Eine Verwandlung.
    Wolf stolperte zurück, aber es war zu spät.
    Mit ruckartigen Bewegungen

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