Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
breitete er die Arme aus. Er streckte seine Beine, presste sie fest aneinander, bis sein Körper in Form eines Kreuzes dastand.
Lisa wandte sich ab. Sie wusste, was geschah. Auch die Jungen blickten angewidert in eine andere Richtung. Nur Kyra verfolgte voller Ekel, aber auch mit Faszination, was weiter geschah.
Als Lisa eine Weile später zaghaft wieder hinaus auf den Hof blickte, war Wolf verschwunden. An seiner Stelle stand eine neue Vogelscheuche. Über ihrem hölzernen Körper hing die Kleidung des Bauern – und auf ihren Schultern saß ein blanker Knochenschädel.
Chris löste sich vom Tor und lief an dem riesigen Mähdrescher vorbei zur Rückseite der Scheune. Dort blickte er durch einen Spalt ins Freie. Das Gleiche tat er an beiden Seitenwänden. Dann erst kehrte er niedergeschlagen zu den drei anderen zurück.
»Sie sind überall«, flüsterte er mit hohler Stimme. »Die Scheuchen haben uns eingekreist.«
Herr Fleck war überzeugt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Selbst dann noch, als sich die Geister um ihn herum in blasse Schwaden auflösten und innerhalb weniger Augenblicke zu nichts zerfaserten.
Der Archivar wusste nicht, dass Kyra in genau diesem Moment die Spiegelscherbe aufgehoben hatte. Er ahnte auch nicht, dass Boralus die Geister mithilfe von Energie erschaffen hatte, die er dem armen Bauern Wolf abgezapft hatte; als die Verbindung zwischen den beiden zusammengebrochen war, hatten auch die Geister an Kraft verloren.
So schnell, wie sein Alter es zuließ, lief der Archivar die Treppe hinauf und eilte an seinen Schreibtisch. In der einen Hand hielt er noch immer das vergilbte Buch aus der hintersten Ecke der unteren Gewölbe. Mit der anderen packte er die Kiste voller Pestnägel, die er Kyra und ihren Freunden gezeigt hatte.
Mit beidem stürmte er die Stufen hinauf in die Nacht, über den leeren, finsteren Marktplatz, die Hauptstraße hinunter bis zu dem kleinen Teeladen am Nordtor, von dem er wusste, dass er Kyras Tante gehörte. Licht fiel von innen durch das Schaufenster auf das nächtliche Straßenpflaster.
Kassandra Rabenson ging voller Sorge in ihrem Geschäft auf und ab, nippte hin und wieder an einer Tasse kalt gewordenem Tee und machte sich schlimme Vorwürfe. Sie hätte die vier nicht so einfach gehen lassen dürfen. Sie hätte sie zurückhalten müssen.
Die Türklingel läutete Sturm, als Herr Fleck in den Laden stürzte, unter einem Arm das Buch, unter dem anderen die Nagelkiste.
»Frau Rabenson!«, keuchte er aufgeregt. »Schnell – haben Sie einen Wagen?«
Tante Kassandra nickte. Sie war kreidebleich geworden.
»Dann los«, rief der Archivar und lief zur Hintertür des Ladens in Richtung Innenhof. »Kommen Sie! Ich erkläre Ihnen alles unterwegs.«
Inferno
Lisa blickte hektisch von einem zum anderen.
»Und was machen wir jetzt?«, stieß sie hervor. In ihren eigenen Ohren klang es kaum verständlicher als ein heiseres Husten.
»Ich hab ’ne Idee«, zischte Chris verbissen. Allerdings verriet sein Tonfall den anderen, dass er selbst kein allzu großes Vertrauen in seinen Einfall hatte.
»Und die wäre?«, fragte Nils.
Aber Chris hatte sich schon herumgeworfen und kletterte an der Karosserie des Mähdreschers hinauf. Augenblicke später saß er hinterm Steuer. Seine Blicke fuhren gehetzt über die Armaturen des Stahlgiganten.
»Kannst du das Ding etwa fahren?«, rief Nils ihm zu.
»Weiß nicht«, gab Chris knapp zurück. »Ich kann’s wenigstens versuchen. Der Schlüssel steckt jedenfalls.«
»Ich denke, du hast früher nur in Großstädten gewohnt?«, sagte Lisa. Sie dagegen hatte ihr ganzes Leben in Giebelstein verbracht und trotzdem keine Ahnung, wie man einen Traktor fuhr. Geschweige denn ein solches Ungetüm.
Chris gab keine Antwort. Bald war jedoch abzusehen, dass auch er an der riesigen Maschine scheitern würde.
Nils kletterte an seine Seite. »Lass mich mal.«
» Dich? « , meinte seine Schwester zweifelnd.
»Der Rasenmäher zu Hause ist doch auch ’ne Art kleiner Traktor«, erwiderte Nils mit gespielter Zuversicht. »Im Grunde ist ein Mähdrescher doch nur der große Bruder von so ’nem Ding, oder?«
Kyra war derweil zum Tor gelaufen und tat ihr Bestes, zumindest die Scheuchen auf dem Vorplatz im Auge zu behalten. Aber es waren zu viele. Immer, wenn sie nach rechts oder links blickte, waren dort schon wieder ein paar von ihnen auf rätselhafte, lautlose Weise näher gekommen.
Von der Rückseite der Scheune ertönte ein lautes,
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