Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Finsterer. So, als reflektierte der Spiegel nur die dunkle Seite des Betrachters, seine schlechten Angewohnheiten, sein böses Ich.
Plötzlich ertönte ein schneidender Laut. Ein Stern aus Rissen erblühte im Zentrum des Spiegels, dann zerbrach er in tausend Scherben, eine Explosion aus Silberglanz und Glas.
Klirrend rieselten die Splitter zu Boden, ein Wintersturm aus messerscharfen Eiskristallen.
Das Bücherlabyrinth
Der alte Herr Fleck wohnte zwischen Büchern. Er lebte für seine Bücher. Er atmete ihren Jahrzehnte alten Staub. Und manch ein Witzbold behauptete sogar, er esse Bücher, wenn kein normaler Mensch hinsah.
In mancher Hinsicht ähnelte er dem kauzigen Herrn Mohr, dem Besitzer von Giebelsteins einziger Buchhandlung. In der Tat kursierten im Ort allerlei Scherze, in denen die beiden miteinander verglichen wurden. Beide waren alt, gingen ein wenig gebeugt und sprachen oft mit sich selbst. Und für beide waren Bücher ihr ganzer Lebensinhalt.
Doch während Herr Mohr seinen düsteren Laden durchaus an manchen Tagen verließ, um zur Kirche zu gehen oder lange Spaziergänge über die Hügel zu machen, kam Herr Fleck so gut wie nie ans Tageslicht. Als Giebelsteins Stadtarchivar verbrachte er seine Zeit in den Kellergewölben unter dem Rathaus. Hier wurden halb vergessene Stadtchroniken aufbewahrt, deren älteste Bände bis weit zurück ins Mittelalter reichten. Herr Fleck verwaltete, archivierte und restaurierte Dokumente, die mehr Jahre auf dem Buckel hatten als die meisten Gebäude der Stadt. Er frischte verblasste Tinte auf, klebte brüchige Papierfetzen und sorgte für neue Bindungen, wenn einige der alten Bücher aus dem Leim gingen.
Und, was noch wichtiger war, er kannte jedes Detail aus Giebelsteins Geschichte. Ganz gleich, nach welchem Namen man ihn fragte – ob Persönlichkeit oder einfacher Bauernknecht –, Herr Fleck kannte sie alle. Wenn es Unterlagen über eine Person gab, dann hatte er sie im Kopf. Oder wusste zumindest, wo sie in kürzester Zeit zu finden waren.
Die Archivgewölbe der Stadt erstreckten sich unterhalb des alten Rathauses und – so munkelte man, ohne es allerdings mit völliger Sicherheit zu wissen – auch unter dem gesamten Marktplatz. Außer Herrn Fleck kannte niemand die vollständige Ausdehnung der unterirdischen Bücherkatakomben. Nicht einmal die zahlreichen Bürgermeister, die der alte Mann im Laufe seines Lebens hatte kommen und gehen sehen, hatten je versucht, die verwinkelten Gänge und Regalreihen zu erforschen. Sicher, der eine oder andere war zu Herrn Fleck hinuntergestiegen und hatte sich herumführen lassen. Aber keinem hatte der alte Archivar wirklich alles gezeigt. Die meisten hatten sich ohnehin nach der dritten Abzweigung gelangweilt und waren eilig wieder hinauf ans Licht gestiegen, um sich ihren Amtsgeschäften zu widmen.
Und so kam es, dass Herr Fleck in den Archivgewölben herrschte wie ein König ohne Volk, Herr über tausende und abertausende von Büchern und Dokumenten, deren Erhalt und Katalogisierung er sein ganzes Leben gewidmet hatte.
Vor zwei Jahren hatten Kyra, Lisa und Nils ihn kennen gelernt, als ihre Schulklasse einen Ausflug ins Rathaus unternommen hatte. Sie hatten dort einen Vortrag über den Verwaltungsapparat der Stadt hören sollen, er war ihnen jedoch schon nach ein paar Minuten zu langweilig geworden. Die drei hatten sich von der Gruppe abgesetzt und waren neugierig der Treppe weiter nach unten gefolgt, bis sie plötzlich vor Herrn Fleck gestanden hatten. Der alte Mann hatte ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt, als er so unvermittelt aus dem Dämmerlicht der Gewölbe aufgetaucht war. Doch damals hatten sie ihn, ganz im Gegensatz zu seinem Ruf, als freundlichen, wenn auch ein wenig merkwürdigen älteren Herrn kennen gelernt.
Dass Kyra ausgerechnet ihm den Abdruck der Nagelgravur zeigen wollte, war ein spontaner Gedankenblitz gewesen. Falls das Muster in Giebelsteins langer Geschichte schon einmal aufgetaucht war, würde nur Herr Fleck wissen, wann, wo und unter welchen Umständen dies geschehen war.
Heute war Samstag, und Lisa und Nils mussten den Vormittag über ihren Eltern, den Besitzern des Hotels Erkerhof, zur Hand gehen. Deshalb hatten sich Kyra und Chris allein auf den Weg zum Rathaus gemacht. Sie befürchteten, dass man sie gar nicht erst zu Herrn Fleck vorlassen würde, deshalb stahlen sie sich an der wachsamen Empfangsdame am Eingang vorbei. Unbemerkt gelangten sie auf die gewundene Steintreppe, die in die
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