Sieben Stunden im April
dich nach oben. Gut. Gut. Das mache ich. Ich will raus. Nur raus. Ein Zettel am Aufzug. Außer Betrieb. Nein. Das halte ich nicht aus. Ich muss doch raus, ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten. Wie komme ich hier raus? Es muss doch noch einen Ausgang geben. Siehst du einen? Nein. Du hast dein Handy in der Tasche. Atme ruhig. Atme ganz ruhig weiter. Ruf Anja an. Sie soll kommen. Sie soll dich holen. Ich bin doch unter der Erde. Hier habe ich bestimmt keinen Handy-Empfang. Und wenn das so ist, will ich es nicht wissen. Nicht das Handy anschauen. Es wird mir sagen, wie alleine ich bin. Ich will raus. Der Boden gibt nach. Ich habe Angst, ich habe keine Luft zum Atmen in dieser Dunkelheit. Dahinten. Da kommt jemand. Da kommt ein Mann. Er kommt auf mich zu. Oh Gott, er kommt direkt auf mich zu …
Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Tiefgarage rausgekommen bin. Ich erinnere mich nicht, aber offensichtlich muss es mir ja irgendwie gelungen sein. Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, dass mich der Fremde angelächelt hat. Warum, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Kein Mann sollte eine Frau in einer Tiefgarage anlächeln. Ein neues Leben macht böse und ungerecht. Ich sehe es wie ein Foto oder ein Standbild vor mir: das Lächeln eines fremden Mannes in der Tiefgarage, unterste Ebene. Und dann muss ich wohl irgendetwas getan, eine Entscheidung getroffen haben, die mich herausgebracht hat. Ich bin dann, das weiß ich wieder, in Anjas Auto eingestiegen und völlig verstört, zitternd zu mir gekommen. Anja war entsetzt und sagte, sie hätte mich nicht allein dort hineinfahren lassen dürfen. Das ist Quatsch. Anja trifft keine Schuld. Schuld hat der, der mir mein altes Leben genommen hat. Sonst niemand.
Als ich endlich zu Hause war, war ich müde, so müde. Ich habe lange geschlafen in den Nachmittagsstunden dieses Ersten Mais, der mir vor Augen geführt hatte, wie fremd und gefährlich sich mein neues Leben noch anfühlen konnte, dass ich noch lange nicht in ihm zu Hause war.
Später am Abend hat es angefangen zu regnen und es sollte lange nicht mehr aufhören. Mairegen macht schön, ist ein geflügeltes Wort meiner Mutter.
Ob bei mir der Mairegen jemals geholfen hat, weiß ich nicht. Aber Frau Bäcker-Rode ist eine schöne Frau. Und klug ist sie auch.
Frau Bäcker-Rode macht keine Kompromisse
Frau Bäcker-Rode habe ich im Sommer des Jahres kennengelernt, in dem mein altes Leben zu Ende gegangen war. Ich traf sie zum ersten Mal einige Wochen nach der Drachengeschichte von Dr. Achtermann und wenige Tage nach der Balkonparty. Es war ein Google geschuldeter Zufall und das erste Telefonat könnte ich immer noch wortwörtlich wiederholen. Ich habe ihr kurze Informationen über mein altes und mein neues Leben gegeben. Ich habe ihr gesagt, ich sei keine ideale Patientin. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich Hilfe brauche. Dringend. Wenige Tage später saß ich in ihrer Praxis: »Es geht mir schlecht.« Ich habe geweint, nach langer Zeit kamen Tränen aus der Starre und Taubheit. Und viele weitere Termine und viele weitere Tränen folgten.
Frau Bäcker-Rode ist schwer zu beschreiben. Es reicht, dass ich sie schön und klug finde und dass sie eine tiefe, raue Troststimme hat. Viel zu tief und viel zu rau für ihre Statur, für ihrGesicht, aber genau richtig für ihren Job. Andere Frauen mit solchen Stimmen werden Sängerinnen. Auch das tröstet.
»Sagen Sie nicht immer, dass ich ein Opfer bin.«
»Sie sind ein Opfer.«
»Nein. Bin ich nicht.«
»Wie würden Sie das denn nennen?«
»Ich bevorzuge den Ausdruck Geschädigte. Oder Überlebende. Ich habe das überlebt, wissen Sie. Darauf könnte ich eigentlich stolz sein. Ich bin aber kein Opfer.«
»Ja, darauf können Sie stolz sein.«
»Opfer. Das klingt so nach Demütigung, nach Hilflosigkeit, danach, dass jemand Schutz benötigt.«
»Ja, so klingt es.«
»Mich kotzt dieses Wort ›Opfer‹ an. Ich will kein Opfer sein.«
»Es ist völlig egal, wie Sie das nennen. Klar ist, Sie sind gedemütigt, hilflos und Sie brauchen Schutz. Ob es Ihnen passt oder nicht: Sie sind ein Opfer. Auch wenn Sie es anders nennen möchten, werden Sie damit nichts an den Tatsachen ändern.«
So ist Frau Bäcker-Rode. Frau Bäcker-Rode macht keine Kompromisse, Frau Bäcker-Rode ist immer da, wenn ich sie brauche, Frau Bäcker-Rode ist die Ereignisse, die mein altes Leben zunichtegemacht haben, wieder und wieder mit mir durchgegangen. Die längste Therapiesitzung hat vier
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