Sieben Stunden im April
Puffer verbietet sich von selbst, Gleiches gilt für Fertigmischungen aus der Packung. Wenn man sie nicht selbst aus frischen Kartoffeln zubereiten will, bleibt eigentlich nur der Celler Weihnachtsmarkt. Die Puffer dort sind wirklich gut. Und machen dick. Gute Kartoffelpuffer müssen dick machen. Das ist ein Naturgesetz.
Die weltbesten Kartoffelpuffer hat meine Großmutter Elfriede in ihrer völlig vermüllten Küche im vierten Stock eines Mietshauses in der Hildesheimer Bronx, genannt Nordstadt, gebacken. Immer mit lackierten Fingernägeln und die langen, pechschwarzen Haare zum Dutt geknotet. Nicht sehr ordentlich, aber irgendwie hielt es. Zumindest habe ich nie Haare in ihren Puffern gefunden. Das Geheimnis ihrer großartigen Puffer dürfte ihre uralte, gusseiserne Pfanne gewesen sein, die niemals abgespült, nur an besonders guten Tagen mit Papier ausgewischt wurde. Ob Faulheit oder kochtechnischer Trick, sei dahingestellt. Meine Mutter, die die zweitweltbesten Puffer backt, tippt heute noch auf reine Faulheit ihrer mittlerweile lange verstorbenen Schwiegermutter. Auch Elfriedes Sohn, mein Vater, ist schon vor langer Zeit gestorben. Ich war siebzehn Jahre alt und wusste damals noch nicht, dass Vermissen nie aufhört.
Meine Mutter wurde im ersten Jahr meines neuen Lebens achtzig Jahre alt. Sie hat einen Krieg, zwei Männer, nicht enden wollende Streitereien mit ihrer Schwester, einen versoffenen Vater, den frühen Tod ihrer eigenen Mutter und eine lange Berufstätigkeit als Beamtin überlebt. Und sie hat eine Tochter ins Leben hinausgeschickt, die sie fürsorglich, manchmal auch egoistisch, manchmal auch gehässig, manchmal einfach nur nervig, aber immer mit viel Liebe begleitet hat. Sie hat mir beigebracht, dass man als Frau finanziell unabhängig sein soll. Sie hat mir beigebracht, dass man immer wieder aufzustehen hat. Sie hat mir Sätze beigebracht wie »Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist«. Sie hat mir Disziplin, eine besondere Vorliebe für kostspielige Handtaschen, ein Faible für Schuhe, für Wohnungseinrichtung, für, wie mein Sohn zu sagen pflegt, Deko-Kram und für Reisen beigebracht. Für die schönen Dinge halt. Sie hat mir ein paar plattdeutsche Worte beigebracht und die Zuversicht, dass es immer irgendwie weitergeht. Weitergehen muss. Sie hat mich Lebenstüchtigkeit und Lachen gelehrt. Und natürlich weiß ich von ihr, wie man die besten Kartoffelpuffer backt.
Meine Mutter ist eine sehr lebenskluge, kampferprobte, feine alte Dame.
Nachdem mein altes Leben zu Ende gegangen ist, habe ich mich lange Zeit in der Liebe und in den Armen meines Mannes verkrochen. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Kontakt zu meiner Mutter ertragen wollte und konnte. Gesucht habe ich ihn nicht und wahrscheinlich, nein: Bestimmt hat ihr das wehgetan. Wir haben nie darüber gesprochen. Es gibt Dinge, die sind so schrecklich, dass man sie mit jedem Fremden, aber nicht mit der eigenen Mutter besprechen möchte. Ich schämte mich vorder Frau, die meine Windeln gewechselt hat, und ich schäme mich noch heute.
Als zaghaft die ersten, unverfänglichen Worte, zunächst telefonisch, gewechselt wurden, sagte sie: »Du bist eine starke Frau.« Sie sagte es in den folgenden Monaten in ihrer Sprachlosigkeit und in ihrem Entsetzen immer wieder: »Du bist eine starke Frau.«
Nein, Mama. Ich bin keine starke Frau. Ich war es – vielleicht! – in meinem früheren Leben. Sag diesen Satz nicht mehr. Aber mach mir bitte Kartoffelpuffer.
Intermezzo I: Das Ende
Das Ende meines alten Lebens. Den folgenden Text habe ich wenige Tage nach den Ereignissen, die mein altes Leben beendet haben, als Gedächtnisstütze verfasst. Ich wusste, ich werde vergessen. Ich wusste, ich muss vergessen. Ich wusste auch, ich darf es nicht. Nicht so schnell. Denn irgendwann wird jemand wissen wollen, was passiert ist an diesem 7. April 2009. Im Niemandsland zwischen meinem alten und meinem neuen Leben.
Mein Mann hat mir beim Schreiben geholfen und so von Details erfahren, die ein Mann nicht über seine Frau erfahren sollte. Kein Mann sollte so etwas je lesen müssen, keiner Frau sollte das jemals passieren. Er hat in den Stunden des Lesens und Korrigierens eine Flasche Whisky geleert und mit mir geweint. Ich liebe ihn. Dafür und für vieles mehr.
Ich habe diesen Text, den bislang nur wenige Menschen gelesen haben, lediglich in einem sehr geringfügigen Maß verändert. Er gehört zu mir. Ich habe nichts zu verbergen. Ich muss mich nicht verstecken.
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